Stephanie Quitterer war Regieassistentin in Elternzeit, als sie eine Wette mit sich selbst abschloss: Sie wollte sich im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg in 200 Tagen bei 200 Nachbarn ihrer Straße, bei ihr völlig fremden Personen zum Kaffee einladen. Selbstgebackenen Kuchen, Kaffee, Milch und Zucker im Korb, ihr Baby auf dem Arm klingelte sie sich, ihrer angeborenen Scheu zum Trotz, von Tür zu Tür. Wurde eingelassen. Oder auch nicht. Und schrieb einen originellen Blog darüber: hausbesuchwins.wordpress.com
Ralf Lilienthal | Frau Quittere, 200 Kaffee-Besuche in 200 Tagen – war das eine spontane, situationsgeborene Wett-Idee oder ein Projekt mit erkennbaren biographischen Wurzeln?
Stephanie Quitterer | Ich bin schon früher oft durch die Straßen gegangen und habe mich gefragt, wer hinter den Fenstern wohnt, wie die Menschen sich einrichten, welches Leben sie leben. Doch es gab auch ein richtiges Schlüsselerlebnis, als ich vor einigen Jahren – ich wohnte damals in Charlottenburg – einen Korkenzieher brauchte und bei einem Nachbarn geklingelt habe. Es war die gleiche Wohnungstüre wie bei mir, aber dahinter kam ein komplett 80er Jahre eichenvertäfelter Eingangsbereich zum Vorschein – verrückt! Das war eine völlig andere Welt.
RL | Unbezähmbare Neugierde ist sicherlich ein starker Antrieb, wenn es gilt, sich zu überwinden und bei fremden Menschen zu klingeln. Ein Türöffner-Argument war das sicherlich nicht!?
SQ | Abgesehen von den Kuchen kam ja noch etwas sehr Wesentliches dazu: der Prenzlauer Berg. Ich wollte nicht nur fremde Wohnungen besichtigen, sondern in erster Linie den Prenzlauer-Berg-Klischées auf den Zahn fühlen. Das Thema, und wie es sich hier verändert hat, war für viele ein Grund, mich einzulassen, dazu hat fast jeder was zu sagen. In Berlin wird «Prenzlauer Berg» praktisch als Synonym für die Gentrifizierung gebraucht. Es kursieren hier einige Feindbilder, allen voran natürlich der reiche Spießer-Schwabe, der dicke Autos fährt und an den teuren Mieten Schuld ist. Dann die Prenzlauer-Berg-Mutter, die den ganzen Tag nur im Café hockt und ab und zu ihr Projektkind im Luxuskinderwagen durch die Gegend kutschiert. Ein Ort der Vorurteile: zwischen Ossis und Wessis, Alteingesessenen und Neuzugezogenen ... Als ich schwanger war, bin ich von Kreuzberg zu meinem Mann in den Prenzlauer Berg gezogen – und musste mich auf einmal ganz anders mit all diesen Klischées auseinandersetzen. Ich bekam jetzt böse Blicke, weil ich einen Kinderwagen vor mir her schob, demnach eine «Prenzlauer-Berg-Mutter» war. Dass wir in einem Haus wohnen, bei dem zwar die Fassade gestrichen wurde, die Wohnungen aber völlig unsaniert sind, mit Kohleofen geheizt wird und im Hinterhaus auch noch Etagenklos benutzt werden, sieht man natürlich nicht. Und wir sind nicht das einzige Haus. Die müssen doch alle noch irgendwo sein, dachte ich. Und eines Tages wollte ich keinen Frust mehr haben und kein Feindbild mehr sein, sondern herausfinden, wer hier eigentlich wirklich wohnt.
RL | Und warum hat Ihr Selbstversuch die Überschrift «Wette» bekommen?
SQ | Damit wollte ich mich bei Stange halten. Bei fremden Leuten zu klingeln, war für mich nämlich eine ziemliche Mutprobe – ist es immer noch. Bis ich mich wirklich getraut habe, hab ich mindestens fünf Anlaufkuchen gebacken und dann doch vor lauter Panik allein gegessen. Ich fand mich nämlich selbst ganz schrecklich. In der einen Hand den Kaffee-Korb, in der anderen den Kuchen, vorm Bauch das Baby – ich sah aus, als würde ich sofort einziehen wollen. Aber eines Tages stand ich dann plötzlich doch klingelbereit auf der Straße. Und schon beim ersten Klingeln wurde mir aufgemacht – und ich war so überrumpelt, dass ich völlig wirr, ohne mich vorzustellen, etwas von «Kaffee trinken» und «frisch gebackenen Schweineohren» gestammelt habe. Aber die Frau an der Tür reagierte weder entsetzt, noch abweisend. Sie war nicht mal richtig überrascht. Und als ich dann, unfassbar aufgeregt, tatsächlich in der ersten fremden Küche stand, wurde mir klar, dass «Reinkommen» ja nur der eine Teil des Projekts war. Jetzt ging es erst richtig los. Aber so weit hatte ich es mir noch gar nicht ausgemalt. Ich hatte keinen Plan. Es ging mir um die Geschichten, um die Leben. Die Leute sollten erzählen. Und sie haben tatsächlich erzählt.
RL | Vor laufendem Mikro? Schließlich wollten Sie anschließend in Ihrem Blog ja darüber schreiben.
SQ | Ich hatte einmal, bei einem einzigen Besuch, ein Mikro dabei, weil ich dachte, das wär doch vielleicht ganz praktisch, ich müsste nicht alles aus dem Gedächtnis … Keine drei Minuten später hab ich das Mikro aber schon wieder ausgemacht, weil mein Besuch einen ganz falschen Charakter bekam. Ich wollte nicht als Journalistin oder Forscherin auftreten, hier Subjekt, da Objekt, sondern als Mensch. Das Ziel war nicht der Blog, sondern die Begegnung. Dass ich anschließend über meine Besuche geschrieben habe, war dann quasi nur die Nachbereitung. So aber saß ich eher wie eine Bekannte oder Freundin in der Küche. Bevor man bei jemandem am Küchentisch sitzt, hat man ja meistens schon ein paar Prüfungen durchlaufen: man kennt sich, hat sich vielleicht schon an einem neutralen Ort getroffen, ist sich sympathisch und so weiter. Ich saß von Null auf Hundert am Küchentisch, hatte sozusagen die Prüfungen übersprungen, musste keine Zwiebelschichten bis zur Annäherung abhäuten – aber bekam das gleiche Vertrauen. Oder auch die gleiche Neugier. Das war wirklich unglaublich beglückend. Wie intim und intensiv das werden kann. Vor allem, wenn man bereit ist, die eigenen Beschränkungen hinter sich zu lassen. Anfangs kam ich noch in eine Wohnung, sah den Menschen, die Einrichtung und versuchte, alles einzuordnen, dachte, aha, du bist so und so – klar, da war ich ja noch auf der Suche nach den Klischées –, aber schon nach fünf Minuten Gespräch war von meiner kleinen Ausgangsfantasie nichts mehr übrig. Ich lag mit meinen Schubladen kein einziges Mal richtig! Da hab ich gemerkt, wie bereitwillig ich in diese Klischéefallen tappe. Die Wirklichkeit war immer ganz anders, als ich vorher erwartet hatte.
RL | Galt das auch für Ihre Gentrifizierungs-Spekulationen? Waren die Ossis anders als die Wessis? Die reichen Neuzugezogenen anders als die mit den preiswerteren Altverträgen?
SQ | Ich bin anfangs mit genau dieser Absicht losgezogen: herauszufinden, natürlich augenzwinkernd, ob es einen Qualitätsunterschied gibt zwischen Ossi und Wessi, Vorderhauswohnenden, Hinterhauswohnenden, Ur-Berlinern, Zugezogenen, Neu-Zugezogenen und so weiter. Ich hab sogar eine «Statistik» geführt. Ich wollte einen «Zusammenhang» herstellen – ein Gastgeber hat das mal auf «Arm gegen Reich» runtergebrochen – gemessen an der Gastfreundschaft, die einem spontan Klingelnden entgegengebracht wird. Wie absurd das ist – abgesehen von der Aufgabenstellung –, merkt man, wenn man «Mensch» vor die Kategorien setzt: Mensch, der im Vorderhaus wohnt, Mensch, der in Berlin geboren ist, Mensch, der neu zugezogen ist. Natürlich reicht der Mensch weit über sein Prädikat hinaus. Ich will und kann also nichts Verallgemeinernderes mehr sagen, als dass mir 130 sehr verschiedene, allesamt bemerkenswerte Menschen die Türe geöffnet haben. Punkt.
RL | 130 von 200 – rein rechnerisch haben Sie Ihre Wette verloren. Was wohl auch der strapaziösen Grundkonstellation zwischen Backen, Klingeln und Bloggen geschuldet war – Kleinkindbetreuung inklusive!?
SQ | Allerdings. Vormittags Kuchen backen, nachmittags bis zu einer Stunde lang Klingelputzen, dann bis zu drei Stunden Kaffee trinken, nachts schreiben – und wenn dann das Baby noch Zähne kriegt … Aber es war nicht nur der Schlafmangel. Ich war von den vielen Eindrücken und Geschichten so angefüllt, hatte die maximale Tornisterfülle an Glück und Erleben erreicht. Gleichzeitig sank die Notwendigkeit, trotzdem noch weiter loszugehen, mich anzubieten, mir Absagen einzuholen. Jedes «Nein» macht dünnhäutig. Ganz schlimm waren die nasskalten Tage kurz vor Weihnachten, da habe ich einmal ein ganzes Haus durchgeklingelt. Es waren – nebenbei: luxusrenoviert – 63 Parteien, alle waren zuhause, aber keiner hat mich reingelassen. Stattdessen kamen Sprüche wie: «Nee, bleiben Sie mal besser unten!» Und als ich gemerkt habe, dass ich den Spruch, mit dem ich mich an der Gegensprechanlage immer vorgestellt habe, nur noch aufsage und nicht mehr meine, habe ich aufgehört. Das war zwei Wochen vor dem geplantem Projektende.
RL | Wie haben sich Ihre Kaffee-Begegnungen mit zunehmender Erfahrung gewandelt?
SQ | Ab einem gewissen Punkt habe ich nicht mehr gewertet. Nur noch zugehört. Und ich konnte besser zuhören, als ich nicht mehr länger meine Spur verfolgt habe. Und der Gesprächsbedarf ist wirklich da! Es kann sehr wohltuend sein, einem Wildfremden, der vielleicht gar nichts sagt und nur zuhört, etwas zu erzählen.
RL | Auch dann, wenn es sich um ernste, erschütternde Geschichten handelt!?
SQ | Ich glaube, dass sich gerade ernste, erschütternde Geschichten gut einem Fremden erzählen lassen. Wobei mir natürlich niemand seine Geschichte schon gleich an der Türschwelle präsentiert hat. Man tastet sich voran, es ist ein bisschen wie Bergsteigen, man geht in kleinen Schritten nebeneinander her und auf einmal ist man am Gipfel und rundherum die Aussicht.
RL | Und umgekehrt? Wie viel Erhebendes, Erfreuliches hat Ihr Experiment zu Tage gefördert?
SQ | Es gab so viele Begegnungen, die mir das Herz aufgehen ließen! Diese Herzlichkeit jeden Tag, diese Bereitschaft zur Begegnung! Ich habe wunderbare Menschen kennengelernt, mit einigen bin ich seither eng befreundet. Ich selbst bin milder geworden, viel milder. Weil die Menschen allesamt so anrührend sind, in ihren Leben, mit ihren Rucksäcken. Im Blog war jeden Tag ein Hausbesuch die Hauptperson, und am nächsten Tag schon wieder ein anderer, und am Ende standen so viele Geschichten als Facetten von etwas Größerem nebeneinander.
RL | Fazit: Besucht eure Nachbarn?
SQ | Ich fände es großartig, wenn mehr Menschen ihre Nachbarn besuchten! Für den Blog hat eine Leserin tatsächlich einen Gast-Hausbesuch gestartet, um mir bei meinem Wettrückstand zu helfen. Sie ist irgendwo in Bayern losgezogen und hat dort einen fremden Menschen besucht. Sie war hin und weg – genau wie ich. Es macht Spaß, sorgt definitiv für Adrenalin und erweitert den Horizont. Und man trifft neue Freunde. Von mir aus könnte «Parallelwelten besuchen» gern neue Extremsportart werden.