Betül Durmaz im Gespräch mit Ralf Lilienthal

Die soziale Herkunft ist entscheidend

Nr 165 | September 2013

Ein Zeitungsartikel brachte den Stein ins Rollen. Nach einem Jahrzehnt engagierter, aber unsichtbarer Sonderschulpädagogik in einer Gelsenkirchener Brennpunktschule wurde aus der selbstbewussten Frau mit türkischer Migrationsgeschichte eine Buchautorin («Döner, Machos und Migranten»), eine Sozialpreiskandidatin, ein Talkshowgast – kurz gesagt: eine öffentliche Person. Nimmt man die Film- und Fernsehkarriere ihres Bruders Erkan Durmaz dazu, wird das Interview mit Betül («die nicht stehen bleibt») Durmaz nicht zuletzt auch zu einem anerkennend-erstaunten Blick auf ein türkisches Gastarbeiter-Ehepaar, das in Deutschland vor allem eines wollte: nach seiner Fasson glücklich werden.

Ralf Lilienthal | Kein Migrantenkind ohne Migranten-Eltern – der Prolog zu Ihrer eigenen Biographie spielt sicherlich in Istanbul, wo Ihre Eltern den Entschluss fassten, nach Deutschland zu gehen. Was hat das Ehepaar Durmaz bewogen, seine Heimat zu verlassen?
Betül Durmaz | Keine wirtschaftlichen Gründe! Meine Eltern gehörten der Istanbuler Mittelschicht an. Sie lebten in einer 90 m²-Eigentumswohnung. Mein Vater besaß einen Kiosk und war an einer Autowerkstatt beteiligt. Die Aussichten auf ein auskömmliches Leben waren gut. Die Aussichten auf ein selbstbestimmtes Leben nicht. Vor allem meine Mutter hatte sich durch ihre Heirat eine Befreiung aus der Unterdrückung durch ihre Familie erhofft. Stattdessen kam sie in einen Haushalt, der durch die ältere Schwester ihres Mannes dominiert wurde. Daher erschien Deutschland, das mein Vater bereits als Gastarbeiter kennengelernt hatte, beiden als realistischer Zufluchtsort aus der Enge der sozialen Kontrolle.

RL | Als Sie – nach Zwischenstationen in Österreich und Süd­deutschland – im Ruhrgebiet ankamen, wartete neben der erhofften Freiheit vor allem schwere Fabrikarbeit auf ihre tatkräftigen Eltern. Welche Lebensbedingungen hat die Familie damals vorgefunden – aus der Sicht des kleinen Mädchens Betül?
BD | Wir lebten in einem einfachen, überwiegend von Deutschen bewohnten Viertel und waren dort Exoten. Aber weil vor allem mein Vater als begeisterter Fußballfan sich mit großem Eifer in die typisch deutsche Vereinsmeierei stürzte, waren auch wir Kinder von Anfang an ganz natürlich integriert. Freizeiten, Nikolaus- und Weih­nachtsfeiern – wir haben das geliebt. Unsere Eltern auch. «Was?», haben unsere türkischen Freunde gefragt, «warum habt ihr einen Tannenbaum?» – «Weil der schön ist, einfach schön!», hat mein Vater dann geantwortet. Natürlich war das nicht religiös bedingt, sondern kulturell, folkloristisch. Mein Vater ist ein überzeugter Moslem und gleichzeitig der toleranteste Türke, den ich kenne!

RL | Was nicht nur ein Licht auf ihren Vater wirft, sondern auch auf die verschlungenen Wege der Integration. Ein türkischer Gast­arbeiter mit Weihnachtsbaum und Vereinsbuch gilt offensichtlich nicht in erster Linie als Gastarbeiter oder Türke, sondern als Kumpel!?
BD | «Amigo» – das war der Vereins-Spitzname meines Vaters! Ja, wir waren tatsächlich voll integriert. Aber es war eine einseitige Integration, denn für unsere Kultur haben sich die anderen kein
bisschen interessiert. Meine Eltern dagegen haben alles dafür getan, um in Deutschland zu Hause zu sein. Sie sprachen gut deutsch, haben uns eine gute Schulbildung ermöglicht und unsere deutschen Freunde jederzeit gastfreundlich aufgenommen.

  • img cat 2
  • img cat 2
  • img cat 2
  • img cat 2
  • img cat 2
  • img cat 2
Fotos: © Wolfgang Schmidt | www.wolfgang-schmidt-foto.de | Durch die Bildergalerie geht's per Klick auf die Klammern

RL | Also eine Kindheit mit viel Licht und wenig Schatten?
BD | Ich habe mich oft sehr einsam gefühlt, weil meine Eltern wahnsinnig viel gearbeitet haben. Meine Mutter hatte zwei Jobs. Erst ein Achtstundentag in der Fabrik, danach eine Putzstelle. Mein Vater arbeitete im Wechselschicht-Rhythmus. Und trotzdem haben sich beide, wann immer es ging, Zeit für uns genommen – es ging eben nur nicht so oft! Auch der chronische Geldmangel hat mich total angenervt. Meine Schulfreundinnen auf dem Gymnasium hatten Klavier- oder Ballettunterricht, ich bekam eine Plastik­blockflöte. Und wenn ich in der Schule einmal nicht weiterwusste, brauchte ich meine Eltern gar nicht erst fragen, ob sie mir helfen könnten. Nachhilfe war nicht bezahlbar und Bücher, mit denen man arbeiten konnte, hatten wir auch nicht.

RL | Ein Zustand, der entweder zur Resignation führt – oder zu mehr Selbstständigkeit.
BD | Was sollte ich machen, wenn nicht mir selber helfen? Die Bücher gab es in der Bücherei. Fleiß, Ehrgeiz und Ausdauer haben mir meine Eltern beigebracht und täglich aufs Neue vorgelebt. Mit dieser Mitgift habe ich schließlich Abitur gemacht, eine Ausbildung zur Flugbegleiterin bei der Lufthansa und, nach 10 Jahren Fernflügen, berufsbegleitend und in nur dreieinhalb Jahren, ein Studium der Sonderpädagogik in Dortmund. Rückblickend ist mir selber schleierhaft, woher an manchen Tagen meine Energie kam: ein Nachtflug von Hongkong nach Düsseldorf, Umziehen auf der Toilette und dann zur Prüfung an die Uni nach Dortmund.

RL | Hatten Sie ein klares Bild von Ihrer Zukunft als Sonder­pädagogin?
BD | Auch wenn ich mich erst nach einer Phase intensiver Beratung und Überlegung für die Sonderpädagogik entschieden habe: Nein! Während des Studiums hatte ich meine Schwerpunkte auf die Pädagogik der geistig und sprachlich Behinderten gelegt. Gelandet bin ich schließlich an einer Lernbehindertenschule, die heute «Schule mit Förderschwerpunkt Lernen» heißt. Konkret: An der in Bahnhofsnähe gelegenen Gelsenkirchener Malteserschule, eine Brennpunktschule mit über 80% Migrantenanteil und, was den Lehreralltag betrifft, mit mehr als 80% Sozialarbeit – wir unterrichten nicht, wir erziehen, und darauf hatte uns im Studium niemand vorbereitet!

RL | Abenteuer Schule! Was macht den Lehreralltag an der Brenn­punktschule aus, im Guten wie im Schlechten?
BD | Kein Tag ist wie der andere. Das macht meine Arbeit spannend. Und schwierig. Ich plane, aber dann kommt es mit schöner Regel­mäßigkeit anders, als mein Plan das vorgesehen hat. Warum? Weil man es mit vielen sehr schwierigen Kindern zu tun hat. Und mit schwierigen Eltern. Ohne die Eltern zu kennen, wird man die Kinder nicht wirklich verstehen, denn die sind nur das Produkt ihrer Lebenssituation. Doch ich kann die Eltern nicht miterziehen. Ganz gleich, ob ich es mit strenggläubigen Muslimen zu tun habe, die ihren Töchtern das Schwimmen verbieten und die dem Lernen abträglichen Vorschriften des Ramadan durchsetzen wollen, oder mit deutschen Eltern, die in der dritten Generation Sozialhilfe­empfänger sind und jeden Tag bis zwölf Uhr im Bett liegen – ich kann versuchen, innerhalb der 6 Stunden meinen Job so gut wie möglich zu machen, aber vieles werde ich niemals ändern können.

RL | Mit welchen Mitteln versuchen Sie und Ihre Kollegen, trotz aller Widerstände, Ihre Schüler zu erreichen?
BD | «Mittel» – das ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck. Vor allem muss man Kinder mögen, Beziehungen aufbauen, auf eine emotionale Ebene kommen. Ich habe einmal gelesen, dass ein einziges Vorbild reicht, um aus seinem negativen sozialen System herauszukommen. Vielleicht kann ein Lehrer dieses Vorbild sein. Vielleicht auch ein ehemaliger Schüler, der es «geschafft» hat, den wir in die Klasse einladen und der über seinen erfolgreichen Weg aus der scheinbaren Chancenlosigkeit berichtet. Mit Druck und Sanktionen dagegen erreicht man gar nichts. Und womit sollte man ihnen auch drohen? Wer auf dem Gymnasium oder der Realschule die Regeln in grober Art verletzt, der fliegt. Von unserer Schule kann man nicht verwiesen werden. Die Schüler haben ein Anrecht auf Unterricht. Wenn ich meinen Sohn nicht zur Schule schicke, kann man mich sogar pfänden. Wenn, wie das häufig der Fall ist, die Eltern eines chronischen Schulschwänzers ohnehin schon von Sozialtransfers leben, können sie gar nicht gepfändet werden.

RL | Es gibt einen Fernsehbeitrag über Ihre Arbeit, in dem man Sie mit Ihren Schülerinnen joggen sieht – Schulsport scheint eine gute Möglichkeit zu sein, die Willens- und Durchhaltekräfte zu stärken?
BD | Aus eigener Lauferfahrung weiß ich, was passiert, wenn man den inneren Schweinehund erst einmal überwunden hat. Zuerst finden fast alle Schüler das Laufen ätzend, irgendwann macht es dann Spaß und fühlt sich gut an. Manche Kinder haben sogar mit mir an einem Halbmarathon teilgenommen. Immer wieder treffe ich Ex-Schüler, die mir strahlend mitteilen: «Frau Durmaz, ich laufe immer noch!»

RL | Welche Bedeutung hat die Tatsache, dass Sie, als Lehrerin einer Ghetto-Schule mit überwiegendem Mirgrantenanteil, ihrerseits den vielzitierten «Migrationshintergrund» haben?
BD | Bedeutung für wen? Als ich an die Malteserschule kam, war ich die einzige nicht genuin deutsche Kollegin und bin es dreizehn Jahre lang auch geblieben! Meine Lehrerkollegen haben mich ohne Vorbehalte aufgenommen und waren sicher froh, dass ich bei Sprachproblemen regelmäßig übersetzen konnte. Einen kulturellen Übersetzer brauchten sie – als erfahrene Sonderpädagogen – sicherlich nicht. Spannend ist mein türkischer Migrationshintergrund vor allem dann, wenn ich es mit strenggläubigen muslimischen Eltern zu tun habe. Während sie mich, als moderne Muslimin, tendenziell nicht sehr ernst nehmen, bin ich, was die Durchsetzung des Curriculums angeht, viel radikaler als meine deutschen Kollegen. Bei mir kann jedes Kind schwimmen!

RL |Wir nähern uns dem Interview-Ende – Gelegenheit für ein Plädoyer!
BD | Das könnte etwas länger dauern! Aber eines möchte ich unmissverständlich klarmachen: Unsere Schüler mit ausländischen Wurzeln haben im Wesentlichen kein Migrationsproblem, denn nicht ihre ethnische, sondern die soziale Herkunft ist entscheidend. Die Eltern unserer «vernünftigsten» Kinder arbeiten, haben einen geregelten Tag und wissen um die Bedeutung der Schulbildung. Warum kommen viele unserer Schüler – die «vergessenen Kinder» – gerne zur Schule, und weinen, wenn die Ferien beginnen? Weil das der einzige Ort ist, wo klare Regeln gelten, keine Willkür herrscht und wo sie angenommen werden. Deren Eltern sind nicht selten überfordert, oder es ist ihnen schlicht egal, was aus ihren Kindern wird. Tatsächlich haben wir ein gesellschaftliches Problem, das auch nur gesamtgesellschaftlich gelöst werden kann: Verpflichtender Kindergarten für alle problematischen Familien, Schulsozialarbeiter … – die Mittel sind hinlänglich bekannt, aber sie müssen politisch gewollt und durchgesetzt werden. Was meine eigene Arbeit betrifft – ich mache einen kräftezehrenden, aber durch und durch sinnvollen und beglückenden Job!