… und zu den Geschichten des ehemaligen Bauwagens noch jene kommen, die uns alte Filmstreifen zeigen könnten, dann würden wir lachen, weinen, uns abwenden – oder einfach staunen und eintreten in diesen Wagen, in dem im Sommer ein Haufen mit alten Filmstreifen zu sehen war. Denn jeder weiß, wie spannend Geschichten sein können. Manchmal beschäftigen sie uns noch lange, und eine Szene bleibt im Gedächtnis, weil sie eine Frage in uns angestoßen hat, weil sie überwältigend schön oder tragisch war.
Tragisch sah es vor vielen Jahren zunächst für den Bauwagen und für die Filmrollen aus: Der Bauwagen stand abgewrackt, schäbig, zu nichts mehr nutze zwischen den Gleisen am Güterbahnhof in Bonn. Die Filmrollen lagen buchstäblich auf der Straße, einem Gehweg in Rotterdam, wie bereit zur letzten Entsorgung.
Aber in allen guten Geschichten gibt es Hauptpersonen, Menschen, die auf der Suche sind – und dabei manchmal etwas finden, was sie so eigentlich nicht gesucht haben. Ein junger Prinz – pardon! – ein junger Künstler, Rafael Lutter, war auf der Suche nach Ausstellungsräumen, aber überall wurde er mit seiner Mappe mit Zeichnungen abgewiesen (wie andere unbekannte Künstler vor und nach ihm). Die Idee wuchs: Warum nicht selbst einen Ausstellungsraum schaffen, am besten einen mobilen, der frei und ungebunden an fast jedem Ort der Welt stehen könnte? So begann die wundersame Verwandlung des schrottreifen Bauwagens in einen Ausstellungsraum in reinem Weiß. Die erste Reise des für diese neue Aufgabe gerüsteten Wagens ging am 13. September 2001 nach Lausanne, wohin es den jungen Künstler zur Fortsetzung seines Studiums zog. Rafael Lutter und der Wagen (der nun vornehm raum19,6m³ hieß) machten sich auf den Weg (mit Hilfe eines 40 Jahre alten Traktors).
Seitdem öffnet sich immer wieder die Tür von raum19,6m³, um einen Blick auf das zu ermöglichen, was Künstler geschaffen haben, und bewegt sich der Wagen an andere Orte mit maximal 25 km/h. Die erste große Reise durch die Schweiz führte raum19,6m³ im Sommer diesen Jahres von Basel über den Simplon-Pass bis ins Tessin, nach Locarno am Lago Maggiore. Diesmal barg der rollende Ausstellungsraum einen Haufen alter Filmstreifen in seinem Inneren, den Haufen, den die Schweizer Künstlerin Nora de Baan vor Jahren in Rotterdam auf der Straße gefunden, aufgenommen, gehegt und gepflegt hatte. Was kann es für Filme besseres geben, als zu einem der bekanntesten Film-Festivals zu reisen, dem Filmfestival in Locarno, das alljährlich im August stattfindet? Ein Weg zum Ruhm für die alten 16- und 35mm-Filme, ein letztes Aufblitzen als Sternchen am Filmhimmel, bevor die neue digitale Technik auf Festplatte alle Projektoren für alte Filmstreifen verdrängt?
Ein abgelegenes Tal im Tessin, das Centovalli. Vereinzelt sind malerisch anmutende Dörfer zu sehen, die jetzt im Sommer von Erholungssuchenden belebt sind; im Winter ist es hier einsam und kalt. Zwischen bewaldeten steilen Hängen mit Esskastanien und Eichen windet sich über malerischen Schluchten eine Schmalspurbahn, oft parallel zur engen Straße. Gegenüber vom Hotel Elvetico in Camedo, nur wenige Meter hinter der italienischen Grenze, fährt an einem sonnigen Samstagmorgen Ende Juli ein großer Traktor schwungvoll in die Tankstelle. Mit mannshohen Rädern und einem weißen Bauwagen im Schlepptau ist er so wenig zu überhören wie zu übersehen und lockt die wenigen Gäste nach draußen. Eine kleine junge Frau springt von der unteren Traktorstufe des überdachten Fahrerhäuschens, Nora de Baan. Am Vorabend hatte sie den Wagen auf dem Marktplatz des kleinen italienischen Wahlfahrtsortes Re abgestellt, vor der großen Kirche (um einmal nicht in dem extra für die Fahrt eingebauten klapp-baren Hochbett im Wagen zu schlafen, sondern im eigenen Zelt). Morgens standen dann ein Carabinieri und ein Priester diskutierend vor Wagen und Traktor. Zum Glück wurde kein Strafzettel vergeben, der Priester segnete stattdessen die weitere Fahrt, «aber in den engen Kurven im Centovalli müssen Sie trotzdem sehr vorsichtig fahren!» – «Ja, der Filmhaufen ist unterwegs und sammelt neue Geschichten», lacht sie. «Er wird älter, aber er lebt immer mehr.»
Der weiße Anhänger und die Plakate mit der Ankündigung von Cinema Ambulante weckten gerade an Orten abseits von Konsum- und Kunstgetriebe der großen Städte Interesse. Der von der Firma Doppler für diese spezielle «Tour de Suisse» zur Verfügung gestellte Traktor öffnete zudem die Herzen mancher Walliser, Italiener und Tessiner, denn das Lamborghini-Emblem prangt auf seiner Motorhaube. So geriet auch die Inhaberin einer «Brockenstube» (Schweizer Trödelladen) in Leyton im Wallis ins Schwärmen, als Nora de Baan ihr unvollständiges Essbesteck ergänzen wollte. Eine Übernachtung, eine Wegzehrung und ein neuer stabiler Topf für die von der Mutter geschenkte Sonnenblume links neben der hinteren Wagentür kamen dazu. An anderen Orten wurde vom plakatierten Cinema Ambulante erwartet, dass nun eine Open-Air Kinovorführung beginnen würde: «Wann ist die Vorstellung?» – «Es gibt keine, alles liegt drinnen. Es hängt von Ihnen ab, was sie sehen!»
Manche gingen kopfschüttelnd weg, andere verbrachten zwei Stunden in raum19,6m³ mit dem Filmhaufen. «Offensichtlich haben sie viel bekommen, sogar gratis», schmunzelt Nora de Baan. «Genau das ist für mich zukunftsweisende Kunst: Es geht nicht um Konsumieren, sondern um einen Austausch. Kunst ist Teil der Kultur und unseres kulturellen Erbes, das laufend entsteht – wir alle produzieren sie in einem wechselseitigen Prozess. Wie man diesen Prozess organisiert, ist eine Frage an die Künstler, aber auch an die Gesellschaft.»
Nora de Baan hat Ehrfurcht vor dem Haufen alter Filmstreifen, der aus Dokumentationen, kurzen Trickfilmen und Lehrfilmen besteht. Vor allem aber ist dieser immer mehr zerfleddernde Haufen durch die «Findung» als Ganzes zu etwas Eigenem, etwas Neuen geworden und deshalb auf die Zukunft gerichtet, «denn er hat nun ein anderes Potential als früher, zieht neue Geschichten an – wie auf dieser Tour nach Locarno. Das Publikum kommt und kann etwas damit erleben, anschauen, finden.» Wie aus dem Bauwagen raum19,6m³ wurde, verwandelt sich der Filmhaufen durch die, die ihn präsentieren, für die, die ihn ansehen.
Vor Locarno, der feinen Stadt der Filmfestspiele, legt der Wagen samt Traktor und Fahrerin in Camedo unterhalb der Bahnstation eine weitere Vorführstation ein. Und am Abend findet im Studio Vitale der beiden Theatermacher Corinna Vitale und Stefan Bütschi zu Ehren des Filmhaufens ein Fest statt. Dafür drehen die Wirtsleute des Grüttli neben der offenen Tür von raum19,6m³ die Nudelmaschine für Pasta mit Soße, und Nora de Baan nutzt den Rücken des Koches, um mit ihrem 16-mm-Projektor kleine Filmszenen zu zeigen, die sie aus dem Haufen gerettet und fein säuberlich über Metallkleiderbügel sortiert hat. Der Kontrabassist Hannes Giger ergänzt ihre humorvollen Kommentare musikalisch.
Dann, eintreten in raum19,6m³. Staunend nimmt man die Kühle, die Klarheit des vollständigen Weiß wahr, und taucht ein in eine andere Welt. Da liegt er, der Filmhaufen, locker und doch massig. Manche lockte er zum Sprung wie in einen Heuhaufen, andere faszinieren die unendlich vielen Filmstreifen. In die Hand genommen, gegen das Licht gehalten, sind einzelne Szenen zu erkennen: Hier steht eine Frau vor einer Schultafel, einige Bilder weiter hat sie den Arm gehoben. Dann ein breiter, bald 3 cm dicker Streifen, am Anfang ist eine lange Buchstabenreihe angeklebt, die amerikanische Flagge ist zu erkennen. Welche Geschichten stecken dahinter? Ob man noch dazu passende Teile findet? Die Gedanken gehen auf Reisen: Wie viele Filme habe ich gesehen, wie viel kleine Bildchen wie diese hier? Wie viel Fantasie und Arbeit steckt darin! Aber warum sind die Streifen aus dem Haufen eigentlich so unterschiedlich? Nora de Baan, die Kunst und Video studiert hat, kennt auch das alte Material. «Bei den alten 16-mm-Filmen gab es zunächst zwei Rollen, eine für die Bilder und eine für den Ton.»
Auf der Reise wurde Nora de Baan immer wieder gefragt, warum sie das mache, so mühselig, ohne Komfort und ungewöhnlich langsam nach Locarno zu reisen. Ob sie gut dabei verdiene? Nein, sie hat sogar ihren Brotjob als Filmvorführerin in Zürich ruhen lassen, um diese Fahrt zu machen. «Was ich tue, ist das Ziel, nicht irgendein bestimmtes Ergebnis oder Produkt. Es entsteht, weil ich eine Frage habe, weil es mich reizt, etwas herauszufinden; daraus entwickelt sich eine Antwort – und wieder eine andere Frage. Und ich habe das Glück, dass ich mir aktiv ein Luxusleben einrichten kann, denn im Gegensatz zu vielen anderen Menschen bei uns habe ich viel Zeit zur Verfügung, um etwas auszuprobieren, herauszufinden.»
Zeit, das Luxusgut unserer Zeit. Zeit, die ihr mehr wert ist als Geld aus verpasstem Einkommen. Und doch ermöglicht erst Geld jede neue Kunstaktion und muss durch Unterstützer, Sponsoren und die ehrenamtliche Arbeit mancher Engagierter zur Idee dazu kommen. «Jeder muss entscheiden, was in seinem Leben wesentlich ist. Für mich ist es die Zeit zu tun, was ich möchte; sie ist mein Luxus. Ich habe keine tolle Wohnung, kein Auto, fahre nicht in Urlaub. Anderes ist mir wichtiger.»
Sich entscheiden. So wie auch Rafael Lutter, bei dem der Bauwagen raum19,6m³ am Ende der Reise wieder angekommen ist. «Das Spannende, das Eigentliche ist für mich die Zusammenarbeit mit dem Künstler, der etwas mit dem Raum macht. Von diesem Prozess profitiere ich, jedes Mal.»
Und doch – der Raum birgt wie aller Besitz auch Verpflichtungen in sich, braucht Pflege und einen geschützten Ort für die Pausen zwischen den Aktivitäten. Deshalb ist da manchmal der Gedanke, aufzuhören mit dem Wagen. Wie es in zehn Jahren sein wird? Alles ist offen für Rafael Lutter. Über das Internet entstehen neue Kontakte und Pläne für raum19,6m³, aber nicht alles passt zu einer Ausstellung oder Aktion mit dem mobilen Raum, zu seinen besonderen Möglichkeiten, an ungewöhnlichen Orten zu stehen und neue Zusammenhänge herzustellen. Das eigentliche Streben von Rafael Lutter, seine künstlerische Arbeit, gilt dem Malen. Auch sie braucht Zeit und Raum, um zu werden, und um dann ausgestellt zu werden. Erst dann kann sie uns als Betrachter Eindrücke, Fragen mitgeben, ganz offen und frei lassend, denn «was mit dem Betrachter passiert, liegt nicht in meinem Bereich.» Wie bei dem Filmhaufen, den Nora de Baan präsentierte. Es liegt an uns. Es liegt an mir, was ich suche, was ich wähle, was ich finde.