Den Geruch des Meeres und das Schreien der Möwen vermisse ich immer mal wieder.» Während Daniel Seex das sagt, ahnt man etwas von dieser leisen Sehnsucht, die einen nur heimsuchen kann, wenn man eine Gegend wirklich als Heimat versteht und sich dennoch entschieden hat, andernorts zu leben. Kurz ist sein Blick nach innen gerichtet. Kurz werden die sonst eher schnellen, unruhigen Schritte und Bewegungen langsamer. «Ich habe ja zuvor noch nie an einem anderen Ort gewohnt. Ich lebte immer nur in Edinburgh, immer nur in Schottland, wo man ja nirgends wirklich weit weg vom Wasser ist.»
Doch Schottland, das Meer und die Möwen sieht Daniel Seex nur noch dann, wenn er seine Eltern und Freunde besucht, um «Heimaturlaub» zu machen. Und das nicht etwa, weil er inhaftiert, entführt oder dazu gezwungen wurde. Nein.
Er hat sich für die Liebe und damit für ein Leben jenseits seines schroff-schönen Inselteils entschieden und ist vor gut zwei Jahren nach Wien gezogen.
Die Liebe und Wien – wer könnte dieser Kombination schon widerstehen? Daniel Seex konnte und wollte es nicht, zumal er für seinen Beruf nicht sehr viel mehr braucht als ein Blatt, einen Stift und einen Computer – und natürlich seinen kreativen Geist. Letzterer scheint immer auf Empfang: beim Reden, beim Gehen, beim Drehen einer Zigarette. Man hat den Eindruck, dass alles auf Daniel Seex Eindruck macht, was ihn umgibt. Und so wundert es nicht, dass er stets ein Notizbuch in der Tasche mit sich trägt, in das er plötzlich noch schnell etwas skizziert. Kleine Zeichnungen von Einfällen, Formen zu Fragen und Problemen, die ihn gerade umtreiben.
Jeder Ort ist sein Arbeitsplatz, und so wird gerne eine der Bänke des hübschen Liechtensteinparks im neunten Wiener Gemeindebezirk – dort wohnt er zwischen Franz Schuberts Geburtshaus und der berühmten Strudlhofstiege (die nicht nur durch Heimito von Doderers gleichnamigen Roman Berühmtheit erlangte) – oder das heimische Sofa zum «Atelier». Denn der eigentliche Kreativraum von Daniel Seex liegt hinter seinen Augen. Von dort geht’s über die Hände als Striche, Linien, Umrisse auf ein Blatt, und durch die Bearbeitung im Computer mit Farben (meist reduziert auf drei oder vier zuzüglich Schwarz und Weiß) vollzieht sich schließlich die eigentliche Ausgestaltung. Diese hat eine selbst gesetzte Vorgabe: weniger ist mehr. «Eines meiner größten Vorbilder ist Noma Bar.* Ihm gelingt in seinen Illustrationen eine maximale Reduktion aufs Wesentliche. Das ist auch mein Anliegen: Finde die entscheidende Aussage einer Geschichte, lasse das schmückende Begleitwerk weg – und dann …», er hält kurz inne und schmunzelt, «… finde etwas, was einen kleinen Bruch, eine winzige Störung ins Bild bringt. Gerne mit etwas Humor. Gerne mit leiser Ironie.»
Bis zu seinen zwei «Großprojekten» der letzten Jahre, den Büchern Ein Jahr im Sattel und Ein Jahr in Laufschuhen, in denen Daniel Seex meisterlich seinem Anliegen auf Reduktion und Humor gerecht wurde und über 200 Illustrationen zu den Rad-Geschichten für jeden Tag des Jahres von Giles Belbin und zu den 365 Laufsport-Stories von Damian Hall schuf, ist er selbst beruflich einige Umwege gelaufen.
«Gezeichnet habe ich zwar schon als Kind, denn meine Mutter ist Künstlerin und wir hatten zu Hause immer und überall Farben, Stifte und Blätter liegen, doch als Beruf konnte ich mir das einfach nicht vorstellen. In der Schulzeit hatte ich keinen Zweifel daran, dass ich Naturwissenschaftler werde! Mein Physik-, vor allem aber mein Chemielehrer Mr. Muir war so leidenschaftlich bei der Sache, dass er auch eine Leidenschaft dafür in mir entfachte.»
Neben der zweiten großen Leidenschaft, die sich in seiner Wohnung in zahlreichen Büchern stapelt, nämlich jene für Landkarten und Flaggen, hält das Interesse für alles Naturwissenschaftliche bis heute bei ihm an. Das Chemiestudium aber entpuppte sich rasch als Enttäuschung, die er nicht bis zum Studienende aushalten wollte – vom Enthusiasmus für die Elemente und Experimente, die ihn in der Schulzeit so begeistert hatten, war an der Universität wenig bis gar nichts mehr spürbar.
Und nun? Einen Plan B gab es nicht. Dafür aber allerlei Überlebensjobs: als Gärtner, in einer Bank, in diversen Büros als Mann für alles und nichts. In einem dieser Büros jedoch hatte er so wenig zu tun, dass die Notizblöcke nicht mit Kundenwünschen beschrieben, sondern mit Hunderten kleiner Kritzeleien versehen wurden – das englische Wort «doodles» ist hierfür wunderbar passend. Und diese Doodles landeten haufenweise in Schuhkartons, die irgendwann von einer Freundin, die Kunst studierte, geöffnet und gesichtet wurden. Plan A1 war gefunden und duldete keinen Widerspruch und kein Zögern: Raus aus dem Büro und rein ins Edinburgh’s Telford College. Dort fand er einen Dozenten, der ähnlich dachte und arbeitete wie er selbst: «Glen McBeth war eigentlich kein klassischer Lehrer, sondern freier Illustrator, der nebenbei auch unterrichtete. Er forderte von uns selbstständiges Arbeiten.
Er forderte eigene Ideen und keine Wiederholungen von vorgefertigten Aufgaben, die schon andere zuvor gelöst hatten. Und er ließ uns in Ruhe. Gruppenarbeiten und Ähnliches sind für Illustratoren nämlich meist eine Qual. Illustratoren sind Neurotiker und Einzelgänger. Zumindest fast alle, die ich kenne. Sie tüfteln und denken gerne für sich alleine.»
Dass Daniel Seex 2011 schließlich den renommierten D&AD Student Award gewann, spricht für sich selbst und seine Könnerschaft und dafür, dass er als Illustrator sein berufliches Zuhause gefunden hatte. Und einen künstlerischen Ort, in dem er weiterhin seinen naturwissenschaftlichen Ansatz anwenden kann: Hier ist ein Problem, beispielsweise eine Geschichte von 250 Seiten, die ein Buchcover braucht, einige Skizzenversuche später ist dafür eine Lösung in Form eines Bildes mit drei oder vier Farben zuzüglich Schwarz und Weiß gefunden.
Wenn er diese eine Bildlösung gefunden hat, dann empfindet er das nicht als künstlerischen Ausdruck seiner selbst, sondern als handwerkliche Arbeit, als gelungenes Experiment und geglückte Versuchsanordnung. «Wir Illustratoren sind keine Künstler im romantischen Sinne. Wir wollen uns nicht expressiv ausdrücken, uns mit anderen kreativ austauschen oder das eine schöne Objekt für die Ewigkeit erschaffen. Seinen Reiz hätte Letzteres natürlich schon. Die Wirklichkeit ist aber eine ganz andere – und diese Wirklichkeit liegt mir sehr. Sie lautet: denken, zeichnen, wieder denken, anders zeichnen. Und davon leben können. Wenn meine Freundin morgens zur Arbeit geht und ich am Nachmittag noch auf dem Sofa sitze und über ein zu lösendes Problem sinniere, dann erwische ich mich ab und an dabei, dass ich mich immer noch vor mir selbst rechtfertige und sage: Dan, sitzen und denken und zeichnen ist auch arbeiten!»
Und diese Art zu arbeiten und aus komplexen Zusammenhängen einfache, aber nicht banale Bildlösungen zu kreieren, ist ein befriedigender Beruf für ihn und ein großes Glück für alle, die eine Firma gründen und ein Logo brauchen, einen Film drehen, der mit einem Plakat angekündigt werden soll (Daniel Seex hat für das Gartenbaukino in Wien fabelhafte Entwürfe zur Stanley Kubrick-Schau eingereicht und wurde zum Publikumssieger gekürt) oder ein Buch veröffentlichen, das schon durch das Cover so interessant und verlockend wirkt, dass es in die Hand genommen werden will.
Daniel Seex hat bereits sein Notizbuch wieder in der Hand und skizziert zufrieden etwas, das ihm gerade zu einem neuen Auftrag in den Sinn gekommen ist, während wir plaudernd durch den Park spazieren. «Weniger ist mehr» heißt eben auch, dass der Geist erst dann Ruhe gibt, wenn eine Lösung gefunden ist, die mehr als eine akzeptable Notlösung bedeutet.