Carolyn Denham ist Näherin. Schon als kleines Mädchen nähte sie für ihre Puppen und mit acht Jahren ihr erstes Kleid. Ihre Mutter war leidenschaftliche Näherin. Sie nähte alle Kleider für die Familie – für sich, für den Mann und die vier Töchter. Als zweite der vier Töchter ist Carolyn allerdings die Einzige, die die Leidenschaft ihrer Mutter behielt und weiter ausprägte. Damals, in der Stadt ihrer Geburt im nordenglischen Sheffield im Süden der Grafschaft Yorkshire, wo sie aufwuchs, war das Selbernähen verbreitet. In ihrer Straße lieferten sich die drei bis vier Mütter, die nähten, einen eifrigen, aber freundlichen Wettkampf: Wer brachte das nächste auffallendste oder schönste Kleidungsstück zustande? Mit sechzehn hatte Carolyn bereits ein eigenes kleines Geschäft begonnen: Sie nähte die Schulkleider für ihre Klassenkameradinnen und verdiente sich so ihr Taschengeld. So erhielt die obligatorische Schuluniform eine begehrte individuelle Note, und erst recht konnten die neueren Kreationen der Pop-, Rock- und Trendsetting-Modeszene, die schwer und nur teuer zu kaufen waren, nachgenäht und unter den Mitschülerinnen verkauft werden.
Nach der Schule studierte Carolyn Denham Design, wohnte und arbeitete acht Jahre lang als Designerin in Italien. Vier Jahre davon verbrachte sie im Dienst der Modebranche. Zuerst zweimal, dann gar viermal im Jahr mussten neue Kollektionen entworfen und produziert werden. Es waren überhastete, ruhelose Jahre. In dieser aufreibenden Zeit nähte Carolyn weiterhin ihre eigenen Kleider. Diese sollten einfach und für viele Jahre tragbar sein. So wuchs überhaupt der Gedanke, über das Jahr hinaus zu gestalten, nicht nur für eine Saison. Warum sollten nicht auch andere Frauen die Freude am Selbermachen neu entdecken und ihr näherisches Potenzial entwickeln und weiter ausbilden? – «I believe in making!», sagt Carolyn Denham mitten in unserem Gespräch, und ihre Augen sprühen vor Begeisterung. Sie glaubt ans eigene Tun.
Als Kind lernt jeder Mensch das Glück des Selbermachens. Das Kind kann sich stundenlang ins Basteln, Gestalten, Herstellen und Herrichten versenken. Es vergisst sich und die sonstige Welt ganz dabei. Als Erwachsene verlieren wir allzu oft diese eigenschöpferische Kraft des Selbermachens. Sich selbst ganz im eigenen Tun zu vergessen gehört aber zu unserem Dasein, erläutert Carolyn nebenbei und mit großer Selbstverständlichkeit, und ist überdies auch therapeutisch. Wenn dann noch mit den besten Werkstoffen und Werkzeugen gearbeitet werden kann, ist das vollkommene Glück nicht mehr fern.
So entstand die Idee einer eigenen Marke für hochwertiges, nachhaltiges Nähzubehör, Schnittmuster und Stoffe: Merchant & Mills. In «Merchant» klingt das Kaufmännnische, der Händler als Vermittelnder, an; in «Mills» das Herstellerische, Verarbeitende, die Produktionsorte, in denen früher in den Dörfern gemahlen, gesägt oder gewoben wurde. Aber man kann auch den besonderen Ton der englischen Kultur, der englischen Lebenskunst darin hören, wie etwa bei den häufig aus zwei Substantiven gebildeten Pub-Namen: The Rose and Crown, The George and Dragon, oder, wie bei einer Zeitschrift für eine nachhaltige Landwirtschaft: Star and Furrow. Die einfachen Dinge des Lebens werden genannt und in der Gegenüberstellung ganze Lebenswelten und Zeiten für das Gemüt hervorgerufen.
Durch eine glückliche Fügung lernte Carolyn Denham den Fotografen Roderick Field kennen. Sie zeigte ihm die selbst entworfenen Kleider, für die sie die Schnittmuster aufgezeichnet hatte und für die sie glaubte, Interessentinnen finden zu können. Und sie zeigte ihm auch die vielen kleinen Dinge aus bester Tradition, die zum Nähen dazugehören: langlebige Scheren aus bestem Edelstahl aus Sheffield, Knöpfe, Garn und vieles mehr. Dafür brauchte sie schöne Aufnahmen – und vor allem die passende Verpackung.
Roderick Field, als «2-D-Künstler», wie er sich nennt, schuf zu den Entwürfen der «3-D-Künstlerin» die nun zur viel geschätzten Marke gewordenen Verpackungen und fotografischen Aufnahmen (einige Foto-Beispiele sind in der Bildergalerie zu sehen).
Mit einem Stück edler, aber eben auch nützlicher Schneiderkreide begann die Arbeit. Und beim alljährlich stattfindenden Literaturfestival im walisischen Hay-on-Wye hatten sie im Jahr 2010 ihren ersten Verkaufsstand zur Einführung der neuen Marke Merchant & Mills. Das renommierte Magazin Country Living wurde auf sie aufmerksam und schrieb einen begeisterten Artikel über die neu entfachte Lust am edlen, stilvollen Selbermachen, sodass bald auch Liberty in London und andere Topadressen bei Merchant & Mills einkauften.
Nun ist Merchant & Mills seit einigen Jahren in der alten, bezaubernd-pittoresken Stadt Rye in East Sussex ansässig, etwa eine Stunde Autofahrt westlich von Dover entfernt. Hier, zum Duft des weiten Meeres, stapeln sich die edlen Stoffballen aus England, Irland, Schottland, aber auch aus Italien, Litauen, Indien oder Japan. Nur das Beste, das Schönste und nachhaltig Hergestellte sollte im Sortiment sein.
Ich frage nach, ob man durch Fühlen und Betrachten eines bestimmten Stoffes erkennen kann, woher er kommt. «Aber ja», beteuert Carolyn, «jeder Stoff hat einen eigenen Charakter, und wie das Essen, die Architektur, der Tonfall einer bestimmten Region, hat auch ein guter Stoff eine eigene Persönlichkeit, die gefärbt ist von der Kultur des eigenen Landes.» So ist ein italienischer Wollstoff sehr fein, ein englischer oder schottischer dagegen viel «wolliger». Die Japaner weben ihre Stoffe «sehr bedacht», very considered, heften liebend gern zwei unterschiedliche Stoffe zusammen zum «Double Gauze», um noch ausgefallenere Effekte und Empfindungen zu erzielen. Ihr Denim, gewoben auf den alten ausrangierten kleinen Webstühlen der Amerikaner, die nach dem Krieg ins Land eingeführt wurden, zählt inzwischen zu den feinsten und edelsten der Gegenwart. Hierfür die passenden Schnittmuster zu entwerfen, die auch für die häusliche Nähmaschine geeignet sind, ist keine leichte Aufgabe. Ein Paar Jeans zu nähen erfordert viele einzelne Schritte, und für jeden einzelnen Nähvorgang gibt es in der industriellen Herstellung spezielle Nähmaschinen. Dennoch arbeitet Carolyn Denham derzeit an einer Kollektion von Schnittmustern für Jeansstoffe, die ohne größeren Aufwand nachzunähen sind.
Überhaupt liebt sie es, ein Schnittmuster so zu kreieren, dass zeitlose, praktische, und doch stilvolle Kleidungsstücke damit genäht werden können, die – je nach verwendeter Stoffart – zu ganz unterschiedlichen Anmutungen führen.
Ich lernte Carolyn Denham, deren Buch Make | Fashion | Work meine Kolleginnen und mich schon begeistert hatte, auf der creativa in Dortmund kennen, «Europas größter Messe für Kreatives Gestalten», die alljährlich im Frühjahr stattfindet. Da erzählte Carolyn Denham mir von der großen Nachdenklichkeit der deutschen Besucherinnen, die sehr bedacht ihre Stoffe für ganz bestimmte Vorhaben aussuchten. Bei einer Messe in Paris dagegen legten die Französinnen ein ganz extravagantes Verhalten an den Tag: Oft wurden viele Meter Stoff aufs Geratewohl gekauft, weil er eben so schön war! So unterschiedlich ist die Art der Menschen, so erstaunlich manchmal ihr Glück.
Bei Carolyn Denham, ihrem kunstsinnigen Partner Roderick Field und den anderen sieben emsigen, kreativen Mitwirkenden bei Merchant & Mills fühlt man, dass das Glück zum Greifen nah ist.