Neulich musste ich beruflich eine Woche nach Spanien. Immer wenn ich unterwegs bin, vermisse ich ausgerechnet meine Obernervensäge Willi besonders. Den ganzen Tag muss ich an meinen lieben, kleinen Willi denken (der ja eigentlich gar nicht so lieb und auch nicht mehr so klein ist). – Wenn ich dann im Ausland Familien mit einem Kind mit Down-Syndrom begegne, fühle ich mich von ihnen magisch angezogen. Ich stalke ihnen auf der Straße hinterher, bis ich die Möglichkeit habe, sie anzusprechen. Ich MUSS ihnen einfach erzählen, dass ich auch so einen Spezialisten zu Hause habe und ein Foto von Willi zücken, auf dem man ihn grinsend in seinem Supermannkostüm sieht. Wir Familien behinderter Kinder sind weltweit so eine Art Gemeinschaft, eine Community eben.
Neulich also, in Madrid auf der Flughafentoilette, war wieder so ein Moment, in dem ich einer anderen Mutter eines Kindes mit Down-Syndrom begegnete. Na ja, ich begegnete ihr zuerst nicht direkt. Ich hatte gerade die Klotür hinter mir geschlossen und war noch damit beschäftigt, die versiffte Toilette zu säubern, als ich höre, wie eine Frau die Kabine nebenan betritt und mit etwas zu lauter Stimme (wie ich sie auch von mir kenne, wenn ich mit Willi spreche) ihr «Engelchen» auffordert, mit hineinzukommen.
Als Nächstes höre ich dieses Entsetzen, das entsteht, wenn das Kind Dinge tut, die man unbedingt verhindern muss, aber nicht verhindern kann: «Oh nein Schatz, nicht hier auf den Boden setzen. Oh Gott, nicht den Türgriff, nicht das Klo, nicht den Mülleimer anlecken!» Spätestens jetzt, wo es um die Anleckerei geht, kann ich davon ausgehen, dass die Mutter nebenan ein Kind mit Down-Syndrom dabei hat.
Wie gut ich sie kenne, diese Situationen. Auf der Toilette kann man sein Kind eben nicht festhalten – unmöglich. Die Mutter hat
sogar noch Glück: Diese Toilettentüren sind so tief, dass das Kind (welches sicher mit dem Down-Syndrom typischen Fluchtinstinkt ausgestattet ist) sich nicht unter der Tür durchquetschen kann und sie es dann mit halb heruntergelassener Hose 500 Meter weiter vom Gepäckband sammeln muss.
Nebenan wird die Stimme der Mutter immer verzweifelter, ich höre alle Spielarten der Liebe, Angst und Resignation. Egal, wie
eindringlich sie auf ihr Kind einredet, es scheint alles zu ignorieren. Bald höre ich nur noch die Worte: «Oh Gott, die Bakterien, die Bakterien.» Die Frau ist den Tränen nahe. Wahrscheinlich leidet auch dieses Kind ständig unter schweren Infektionskrankheiten, das deutlich zu hörende Schnaufen lässt das ahnen.
Ich beeile mich, denn ich weiß, dass ich dieser Frau helfen muss. Sie soll sich wenigstens gleich die Hände waschen können, denn dabei kann man erfahrungsgemäß sein Kind auch nicht festhalten. Die anderen Leute werden keine Unterstützung anbieten, weil sie Berührungsängste haben. Oder sie werden ohnehin nicht klarkommen, weil sich das Kind wahrscheinlich vor dem Waschbecken auf den Boden fallen lassen wird wie ein nasser Sack. Aber ich gehöre zur Community, ich werde gleich dem erziehungsresistenten Kind mit Hilfe von Liedern und Fingerspielen ruckzuck die Hände waschen, auch gegen seinen Willen.
Das alles werde ich ganz selbstverständlich tun, mit einem coolen Lächeln im Gesicht, denn ich bin hier die Einzige, die diese Frau versteht. Dann werde ich der anderen Mutter das Willi-Supermannfoto zeigen und wir werden uns einig darüber sein, wie anstrengend und wie schön das Leben mit einem behinderten Kind ist – und dann muss sie schnell weiterrennen, ihrem Kind hinterher. Ich fühle mich gut, denn ich bin mit meinen Problemen nicht allein!
Als die Tür aufgeht, kommt eine hysterische Yuppie-Tussi mit zwei fetten Möpsen heraus. Sie gehört zu einer anderen Community, nicht zu meiner. Ich wundere mich, dass sie ihren Hunden nicht die Pfoten wäscht und fühle mich irgendwie einsam.