Jean-Claude Lin

So unaussprechlich eins zu zweit

Nr 171 | März 2014

Zum 100. Todestag von Christian Morgenstern

Warum du und ich? Warum ausgerechnet wir beide? Was ist es, was zwei Menschen, die sich lieben, mitein­ander verbindet? Es gibt doch so viele Menschen, die geliebt werden könnten; und doch, für eine bestimmte intensive Ausprägung der Liebe, scheint es nur einen zu geben, auf den es ankommt. Eine solche Empfindung lebt, mehr oder weniger bewusst, latent in jeder aufkeimenden Liebe eines Paares. Aber woher kommt das «Paar», und wohin geht es? Mit welcher Dauer tritt die Liebe in Erscheinung? Ist sie überhaupt von Dauer?
Christian Morgenstern hat das Rätselhafte der Liebe zweier Menschen zutiefst empfunden. Er spricht vom «Rätselglück: zu lieben» in dem Gedicht Lämmerchen am dunklen Zelt vom 20. September 1901, oder davon, wie Liebende sich gegenseitig als zu dechiffrierende Zeichen begegnen: «So fremd sich ganz, so ganz sich Hieroglyphen» in dem Gedicht Silvester im Nachklang der Liebe, die er einen Sommer lang mit Dagny Fett erlebte.
Am 11. Mai 1898 lernte er die am 9. März 1877 geborene Tochter eines in Nordstrand bei Christiania (Oslo) lebenden schwedischen Fabri­kanten kennen. Ihr widmete er den Band Ein Sommer, der 1900 erschien, mit den Worten: «Der’s gehört». Und auch viele der Gedichte in dem darauf folgenden Band Und aber ründet sich ein Kranz, der 1902 erschien, sind aus der innig empfundenen Be­ziehung zwischen Christian Morgenstern und Dagny Fett hervorgegangen. Mit einem Brief vom 9. Mai 1899 an ­Dagny Fett löste er jedoch die Liebesbeziehung: «Was jene Ihnen gewidmeten Lieder anbetrifft, so werde ich sie erst in Ihre Hände legen, wenn Sie mich dazu ermächtigen. Sie sind Ihnen nicht unter Ihrem Namen gewidmet, sondern unter einigen Worten, die niemand als Sie verstehen wird. Sie müssen dieses kleine Buch als mein Tagebuch des vorigen Sommers betrachten und sich selbst dazu wie einen Dritten anschauen. Sie müssen sie wie etwas Fremdes betrachten, wie ein Stück zu Bild gewordenes Leben; Sie müssen sich daran freuen – wie an einem Bilde – wenn Sie mich nicht unglücklich machen wollen. Sie müssen mich überhaupt so positiv in sich aufnehmen, wie ich es mit Ihnen getan habe. Positiv, nämlich als einen Zuwachs an Leben, als eine Förderung und Erhöhung, als ein Glück.»

Bereits die früheren Bände In Phantas Schloss, Auf vielen Wegen und Ich und die Welt (1895, 1897 bzw. 1898 erschienen) sind wesentlich durch die Liebe geprägt, die Christian Morgenstern für die junge Sängerin Eugenie Leroi empfand, die er im Sommer 1894 in Grund im Harz kennenlernte. Vor dem Erscheinen seines Erstlingswerkes In Phantas Schloss schreibt er am 25. Februar 1895 Eugenie: «Meine liebe herrliche Gena! Nicht wahr, ich kann Sie anreden, wie ich will (…) Sehen Sie, das ist die Religion der Königskinder: Stolz und milde den Träumen entsagen, von denen kein Menschen­mund sagen kann, ob es mehr als Träume sind; die ganze Inbrunst, die wir bisher in den Gedanken Gott gelegt, mit der wir aus dem Nichts ein gleich uns Lebendiges schaffen wollten, wieder in unser Herz zurückzunehmen und den unbewahrbaren Strom unserer Liebe nun wieder hin­ausfluten zu lassen auf alles Lebendige und scheinbar Tote, was uns umgiebt, dass die Welt, unser Königreich wieder unser eigen werde, durchgeistigt und gleichsam wiedergeboren und neu erschaffen aus der Seele jedes Einzelnen. Wir sind es ja, in denen alles Leben erst Wert und Sprache gewinnt: in unserer Seele findet der stumme Mund des Alls von seinem Schweigen Erlösung. In ­unserem Gefühl wird die Rose erst schön.»
Schließlich lernte der am 6. Mai 1871 in München geborene Christian Morgenstern ebenfalls in einem Sommer, im August des Jahres 1908, die am 29. März 1879 geborene Margareta Gosebruch in Drei­kirchen kennen. Ihr, «Meiner lieben Frau», ist der 1911 erscheinende Band Ich und Du gewidmet. Am 4. September 1908 schreibt er ihr: «im Ich und Du liegt der Welt, liegt Gottes Sinn beschlossen»; und am 11. September 1908: «Wahr ist, daß mir schon seit Längerem rein aus innerem Erleben, ohne bewußte äußere Anregung, das Geheimnis der Welt, das ist ‹Gottes›, in der Zweiheit ahnungsfern aufgehn zu dürfen meinte, in einer ewigen und jeder Bezeichnung entfliehenden Göttlichen – Ehe, – aber es mußte mich doch erst lebendige Wirklichkeit wieder streifen, bevor ich empfinden konnte: ja so muss es sein, so ist es.»
In der Hochsommernacht vom 19. August 1908 begibt sich Christian Morgenstern zusammen mit Margareta Gosebruch, die er am 7. März 1910 heiratet, und bis zu seinem Tode am 31. März 1914, auf eine neue Wanderung zum Sinn des Erdenlebens:

Es ist schon etwas, so zu reisen
im Angesicht der Ewigkeit,
auf seinem Wandler hinzukreisen,
so unaussprechlich eins zu zweit …


Christian Morgensterns ganzes Leben und Dichten ist der unerschöpfliche Versuch, das Unaus­sprechliche der Liebe doch auszusprechen.