Der Traum vom Schlaraffenland, wo einem die Nahrung gesotten in den Mund fliegt, Geld auf den Bäumen wächst und ein Jungbrunnen für ewige Jugend, Gesundheit und Attraktivität sorgt, ist alt. Die Idee vom uneingeschränkten Wohlleben wurzelt in biblischen Motiven: im Paradiesgarten, im «gelobten Land», in dem «Milch und Honig fließen», im Matthäus-Vers «… sie säen nicht, sie ernten nicht … und euer himmlischer Vater ernährt sie doch».
Menschen, die Hunger kannten, die die Arbeit kannten, die für das Überleben geleistet werden muss, hat diese Wunschfantasie von sicherer, ausreichender Nahrung und Müßiggang seit je fasziniert. Auch für Kinder, die die Reglementierung beim Essen kennen oder auch nur jenen Hunger nach verausgabendem Spiel, ist das Schlaraffenland ein schöner Traum.
Kestutis Kasparavicius hat seine Reise ins Schlaraffenland bereits 1993 gezeichnet. Da hatte sein Heimatland Litauen die sowjetische Herrschaft gerade abgeschüttelt und sich Europa zugewandt. Rationierungen und Beschränkungen, die das Alltagsleben geprägt hatten, waren noch in jedermanns Gedächtnis.
In Kasparavicius’ Geschichte, die sich an Ludwig Bechsteins Märchen vom Schlaraffenland anlehnt, machen sich drei «besonders faule Katzen», Samuel Samtpfote, Freddie Vielfraß und Tom Tigerfell, auf den Weg ins Schlaraffenland. Der Autor gibt ihnen Ratschläge: «Am besten brichst du an einem eiskalten Tag mitten im Sommer auf. Oder mitten in der Nacht, wenn die Sonne hoch am Himmel steht.» Paradoxa leiten die Absurdität des Ortes ein. Hier fahren Schiffe auf dem Land, geradelt wird unter Wasser, Kuhfische dienen als Taxis. Alles, was dem gesunden Menschenverstand und den Regeln der Effizienz widerspricht, ist hier Normalität. Lebkuchenhäuser und Wurstzäune sind erst der Anfang: Alles ist entweder aus Lebensmitteln gemacht oder produziert welche, so wie der Eiswaffelbaum. Es gibt keine Anstrengung, keine Jahres- und Tagesrhythmen, keinen Hunger – und keine Hilfsbereitschaft. Das Schlaraffenland erfüllt mit einem Überangebot alle primären Bedürfnisse sofort. Arbeit steht unter Strafe – «Vollstopfen, Genießen und Nichtstun» lautet das Gesetz.
Kasparavicius erzählt detailliert und weitgehend neutral, nur gelegentlich würzt leise Ironie den Text. Seine Zeichnungen zeigen das Schlaraffenland in klaren, lichten Farben, die Figuren wirken puppenhaft: ein Spielzeugland. Wimmelbildern gleich, gibt es hier im großen Nonsens viele heiter-absurde Details zu entdecken; der erwachsene Mitbetrachter entdeckt Satire.
Maßlosigkeit, Dummheit und Gier der Schlaraffenland-Touristen haben selbstredend ihren Preis, der da heißt: Bauchweh. Andererseits gibt es hier keinen Streit, denn für jeden ist genug da.
Am Ende lädt Kasparavicius seine kleinen Leser ein, die Befriedigung der Wünsche zu hinterfragen. Er erklärt ihnen, wie zufrieden sie sein können mit dem, was sie haben, und macht ihnen ein Leben in Bescheidenheit schmackhaft. Das Schlaraffenland ist bei ihm weder ein Paradies noch eine Höllenvorstellung (wie bei seinem «Kollegen», dem Maler Pieter Brueghel), sondern ein unschuldiger Kindertraum, aus dem man klug werden kann. Heute, da so ein müheloses, müßiges Leben für manche Schichten der westeuropäischen Wohlstandsgesellschaft nahezu Realität ist, ist dies ein leiser Ruf der Vernunft, dem man Gehör wünscht.