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Camilla Jensen

Nr 159 | März 2013

Was weiß ich von mir?

Sonst schreibe ich über andere Menschen. Es ist mir eine besondere Freude, durch das Schreiben oder das Fotografieren eine Geschichte zu entfalten oder auszulösen. Ich bin ja eine Beobachterin und liebe es, das «Hier», das «Jetzt» und das «Wie» kennenzulernen – etwas zu entdecken, das in eine andere Perspektive gehoben werden kann, einen kostbaren Fund neu zu beleuchten und mich durch das Gegebene zum Ausdruck zu bringen.
Ich bin eine Sammlerin, eine Jägerin. Ich liebe Flohmärkte weit mehr als übliche Läden – wahrscheinlich genau aus demselben Grund. Und ich habe in den letzten fünfzehn Jahren für unsere Familie mit allerlei gebrauchten Gegenständen ein Zuhause ge­staltet, indem ich das nutzte, was uns begegnete: Sachen, die wir in Containern oder verlassenen Häusern fanden oder die uns ge­schenkt wurden. So schufen wir unser Zuhause aus dem, was gerade zur Verfügung stand.
Wenn ich auf meine Tätigkeit als Köchin blicke, dann entdecke ich, dass ich mit Lebensmitteln genauso umgehe. Das Kochen ist für mich ebenfalls eine Kunst, aus den zufällig vorhandenen Zu­taten eine Mahlzeit zu gestalten: es inspiriert mich dazu, kulinarisch Herausragendes zu kreieren, oder versetzt mich in die Lage, wenn ich gerade dabei bin, den Kühlschrank sauber zu machen und von Freunden unerwarteterweise an einem Sonntag besucht werde, wenn alle Geschäfte zuhaben, zumindest etwas Interessantes zum Essen zu servieren.
Das ist für mich Kochkunst: die Kunst zu improvisieren.
Solche Momente habe ich nicht, wenn ich alles vorher plane, wenn ich vorher genau weiß, welche Gerichte serviert werden – auch wenn ich diejenigen Küchenmeister und Kochkünstler sehr bewundere, die aus erlesenen und kostbaren Zutaten Erstaunliches hervorbringen. Mit vorgefassten Plänen könnte ich sehr leicht die besten und frischesten Zutaten verderben – meine Überlegungen, ja auch mein Ehrgeiz stünden mir im Weg. Ich kann Besseres aus wenigem oder nichts zaubern. Das sind die Geschichten, die ich gerne erzähle, wenn ich über das Kochen schreiben sollte. Geschichten, wie einfach sich das Leben entfalten kann, wie lauter Edelsteine, die aus einem Beutelchen herauskullern. So ist im Grunde genommen das Planen eines Kochbuchprojektes für mich etwas ganz Widersprüchliches.
Vermutlich ist meine Freude am Kochen meiner Freude am Fotografieren noch viel ähnlicher, als ich ursprünglich dachte.
So wie ich dann am besten koche, wenn ich mir keinen Plan vorlege und nichts Bestimmtes dafür eingekauft habe, so bestimme ich auch nicht im Voraus meine Sujets beim Fotografieren. (Es sei denn, ich arbeite gerade an einem Kochbuch!) Vielmehr warte ich auf bestimmte Momente, ein bestimmtes Licht und halte fest, was eine gegebene Situation bereit hält. Das ist der innere Drang, der mich leitet. Bisher hielt ich die beiden Beschäftigungen für gänzlich verschiedene, wenn auch beide mit den Sinnen zu tun haben und beide kreativ sind. Aber, wie alle künstlerische Tätigkeit, ist für mich Fotografieren, Schreiben, Kochen, Malen, Musizieren oder Tanzen ein Betreten von Neuland, ein Entdecken. Indem ich diese Zeilen niederschreibe und versuche – weil ich dazu aufgefordert wurde – mir über mich selbst und meine Tätigkeiten bewusst zu werden, habe ich etwas ganz Wesentliches über mich selbst gelernt, über meine Einstellung dem Leben und meiner Arbeit gegenüber, über mich als Köchin, Schriftstellerin, Fotografin – über mich als Mensch.


Aus dem Englischen von Jean-Claude Lin