Ich habe Glenn Gould an einem Novemberabend des Jahres 1974 durch einen Film von Bruno Monsaingeon entdeckt. Das französische Fernsehen, das wegen eines Streiks nur ein einziges Programm ausstrahlte, zwang uns dazu, die Trancezustände eines außergewöhnlichen Interpreten zu betrachten, der uns mit seinem zusammengebastelten Stuhl, seinen sonderbaren Äußerungen und seiner unglaublichen Präsenz wie eine göttliche Offenbarung traf.
Von da an hörte ich mir alle seine Platten an, bis zu seinem allzu frühen Tod 1982, der mich schwer erschütterte – dieser Mann schien nicht zu den Sterblichen zu gehören. Sehr bald begriff ich, dass er nicht allein der geniale Nachschöpfer Bach’scher Musik war, den Europa nun für sich entdeckte (in den USA war er seit der Veröffentlichung seiner ersten Fassung der Goldberg-Variationen im Jahr 1955 ein Star), sondern auch ein freier Geist, der sich einer unendlich weiten und zugleich privaten Welt öffnete, wie seine letzten Einspielungen von Brahms, Wagner (mit Gould als Dirigent!), Haydn oder Richard Strauss bezeugten.
Ich besorgte mir alle seine Schriften und saß vor dem Radio oder Fernsehapparat, wenn seine bemerkenswerten Sendungen liefen, in denen seine unzähligen Facetten (nicht zuletzt sein Humor!) aufschienen und er seine Philosophie der Tonaufnahme erläuterte, der er nach dem Ende seiner Karriere als Konzertpianist im Alter von 32 sein Leben widmete. Ich habe verstanden, dass dieses einzigartige Genie nicht nur ein unvergleichlicher Pianist war, sondern überhaupt ein kreatives Ausnahmetalent, so vielseitig wie Franz Liszt.
Zu dem Zeitpunkt, als mein Verlag Actes Sud mir anbot, nach Essays über Liszt und Skrjabin einen weiteren biografischen Essay über Gould zu verfassen, hatte ich den kanadischen Pianisten ein wenig vernachlässigt; nun bot mir diese Anfrage den Anlass, mich selbst zu befragen: Musste ich meine Jugendliebe mäßigen, oder würde ich im Gegenteil Aspekte entdecken, die ich noch nicht kannte? Meine Überraschung war groß, als ich feststellte, dass ich Gould um so mehr schätzte, je besser ich ihn kennenlernte.
Am größten war mein Erstaunen, als ich begriff, wie innig und untrennbar Leben und Werk von Glenn Gould miteinander verknüpft waren. All seine berühmten «Marotten» erwiesen sich als irrelevant und letztlich ohne Belang. Ich begegnete einer Persönlichkeit, die in völligem Einklang mit sich selbst lebte, inspiriert von einer allumfassenden Liebe zur Musik.
Neben dem Klavier, dem er ein sehr widersprüchliches Interesse entgegenbrachte – er behandelte es sogar als «Ersatz» –, interessierte sich Gould für alle Arten von Musik, sofern sie eine überzeugende polyphone Struktur aufwies, natürlich nach dem Vorbild von Bach, dem Hohepriester seiner musikalischen Kirche. Und diese Struktur konnte nur durch die einsame Praxis der Tonaufnahme ausreichend respektiert und zur Geltung gebracht werden, weshalb Gould sich in das «klösterliche» Aufnahmestudio zurückzog, fern der gefährlichen «Arena» des Konzertbetriebs. Daraus entwickelte er eine erstaunliche Moral, die der gängigen Auffassung des Humanismus widersprach; sie allein könne, behauptete er, indem sie sich vor der Welt und ihrem permanenten Konkurrenzdenken schütze, zu einem «Zustand des Staunens» und zur Ekstase führen, dem erklärten Ziel: Die Ekstase vereint «Musik, Interpretation, Interpret und Zuhörer, die verbunden sind durch ein gemeinsam erlebtes Gefühl der Versenkung».
Laut Gould finden sich die Prämissen dieser philosophischen Haltung bereits in den mahnenden Worten des Starez Sossima aus Die Brüder Karamasow: «Es gibt jene, die versichern, die Welt werde sich immer mehr einigen, sich zu einer brüderlichen Gemeinschaft zusammenschließen, indem sie die Entfernungen verkürzt und die Gedanken durch die Luft übermittelt.» – Ist diese Zeit nicht bereits gekommen?