Birte Müller

Er will doch nur spielen

Nr 150 | Juni 2012

Willi liebt Hunde. Aber nicht alle Hunde lieben Willi. Willi liebt es besonders, Hunde zu füttern. Aber nicht alle Hundebesitzer lieben es, wenn ihr Hund plötzlich von einem kleinen behinderten Jungen ein Eis oder Käsebrot ins Gesicht gedrückt bekommt. Wenn er gerade nichts Essbares zur Hand hat, versucht Willi es mit Grashalmen, Steinen, Tannenzapfen oder Sand. Und wenn der Hund sich weigert, dies in den Mund zu nehmen, wird Willi ungeduldig. Dann bewirft Willi den Hund wütend mit diesen Utensilien. Das findet dann niemand mehr lustig – ich übrigens auch nicht.
Wenn Willi aus der Ferne einen Hund sieht, macht er sofort mit den Händen das Zeichen für «Ball», denn Willis größtes Glück ist, wenn er für einen Hund etwas werfen darf, was dieser dann holt und ihm zurückbringt. Es gibt so tolle Herrchen, die das Spiel von Willi und ihrem Hund sogar begleiten, den Hund für Willi alle möglichen Dinge apportieren lassen, ihn sich vor ihn hinsetzen
lassen, damit Willi ihn nach Herzenslust umarmen und sich auf ihn drauflegen kann, und die Willi ein Leckerli nach dem anderen in die Hand drücken, welche er verfüttern kann (oder wahlweise selber in den Mund steckt).
Leider ist es Willi schwer zu vermitteln, dass der nächste Hund, dem wir begegnen, es möglicherweise ganz und gar nicht mag, besprungen zu werden. Ich habe berechtigte Angst, Willi könnte gebissen werden. Und viele Hunde haben wiederum berechtigte Angst vor Willi, sie klammern sich förmlich an die Beine ihrer Besitzer und flehen um Schutz vor diesem wilden Kind. Willi beginnt auch Hunde zu schubsen, die nicht mit ihm spielen wollen. Er gibt ihnen eins auf die Nase oder reißt ihnen am Fell, neulich konnte ich deutlich sehen, dass er am Strand versuchte, einen Hund ins Wasser zu stoßen! Natürlich versuche ich das alles zu verhindern, aber ich muss zugeben, dass ich noch keinem Hund begegnet bin (außer vielleicht den beiden Möpsen unserer Nachbarn), der auch nur annährend so unerzogen ist wie mein Sohn. Ich bin nur froh, dass er bis jetzt noch keinen Hund gebissen hat.
Ich warte auf den Tag, an dem die Hundebesitzer mich schon aus der Ferne anschnauzen, dass ich Willi gefälligst an die Leine nehmen soll. Leider werde ich dann nicht guten Gewissens zurückrufen können: «Keine Angst, er ist ganz harmlos!»
Übrigens sind meine verzweifelten Erziehungsversuche bei Willi den in der Hundeerziehung üblichen Vorgehensweisen nicht ganz unähnlich. Ich habe ein 300 Seiten langes Buch über «angewandte Verhaltenstherapie» studiert und am Ende feststellen müssen, dass das, was dort «positive Verstärkung» genannt wird, nichts anderes ist als das «Leckerli-Prinzip»: Wenn mein Kind sich auf meinen Appell hin auf seinen Stuhl setzt, lobe ich es überschwänglich und überreiche ihm zum Beispiel ein Stück Schokolade. Nur lernt Willi leider nicht so schnell wie ein Hund, sonst wären wir wohl schon einiges weiter.
Zum Glück hat Willi bei den Hundebesitzern den Behinderten­bonus (und ich habe zum Glück den Behindertenmamabonus). Sie sind im Umgang mit einem behinderten Kind zwar oft verun­sichert, aber ihm im Allgemeinen eher sogar noch freundlicher zugewandt als einem normalen gegenüber. Nur manche Herrchen reagieren aus meiner Sicht geradezu hysterisch auf Willi. Es nervt mich dann unendlich, wenn ihnen die Panik ins Gesicht geschrieben steht, nur weil mein Sohn ihrem Liebling ein bisschen Sand auf den Kopf schaufelt oder sein weißes Fell mit seinen schmutzigen Fingern berührt. Am liebsten möchte ich dann auch mal etwas sagen wie: «Er will doch nur spielen.» Oder: «Oh, sorry, so was macht er sonst nie …»
Ach und übrigens: Ich mache es weg, wenn mein Sohn einen Haufen macht, das möchte ich hier einmal deutlich sagen!