Birte Müller

Völlig gestört

Nr 161 | Mai 2013

Ich weiß gar nicht, warum behauptet wird, Kinder mit Down-Syndrom seien irgendwie out. Mein Sohn Willi liegt mit gleich zwei Modekrankheiten eigentlich mal wieder voll im Trend: Er ist hyperaktiv und hat eine Wahrnehmungsstörung!
Es ist, als würde eine unsichtbare Macht den Willi jede Nacht wie ein Spielzeugauto aufziehen und sobald seine Füße den Boden berühren, muss er laufen (hebt man ihn hoch, bewegt er sich in der Luft weiter). Das zusammen mit einer amtlichen Wahrnehmungs­störung ergibt ein ziemlich explosives Gemisch. Willi kann sich einerseits auf nichts konzentrieren, andererseits nimmt sein Gehirn alle äußeren Reize fast gleichwertig wahr. Jeder Reiz löst einen Handlungsimpuls aus und dadurch ist Willi dann praktisch handlungsunfähig.
Das Ganze sieht etwa so aus: Willi kommt vom Kindergarten. Er rennt ins Haus und macht mit den Händen die Gebärde für Schaf (will Shaun das Schaf im Fernsehen!). Der ganze Raum ist voll mit Dingen: Da ist ein Boden (hinsetzen), oben eine Decke (hoch schauen), Wände, Vorhänge (anfassen). Da ist ein Tisch (rauf), auf dem steht Kuchen (haben!). Mama hält Willi fest (he!), Teller (werfen), Milch (trinken? Auskippen! Patschen!), Kuchen (haben!), Bild an der Wand (anlecken), Mama (anlecken). Ein Buch liegt auf dem Stuhl (haben, doch nicht), Papa (kuscheln). Eltern reden beide (hä?). Kleine Schwester weint (laut! aufhören). Licht kommt aus der Lampe (dagegen hauen), lautes Geräusch (oh), Lampe bewegt sich. Eltern reden viel (Schuhe ausziehen? Keine Lust), Willi wird ausgezogen (nervt). Papa redet. Willi bekommt Schuhe in die Hand gedrückt (aufräumen, doof!). Mülleimer (Schuhe reinwerfen). Mama redet (laut). Papa führt Willi zum Stuhl, Schwester (hat schon Kuchen, Neid, hauen). Ein Fleck auf dem Polster (berühren), Willi klettert auf seinen Stuhl, Willi bekommt Kuchen (endlich!) und Shaun das Schaf.
All dies findet in wenigen Sekunden statt. Ehrlich – das ist ganz schön anstrengend für Willi (für uns übrigens auch). Ich bekomme einen Eindruck von dem Zustand meines Sohnes, sobald abends beide Kinder im Bett liegen und ich selbst wie aufgezogen durch die Wohnung renne. Alle Aufräumreize stürzen dann fast gleich­wertig auf mich ein. Jeder Reiz löst bei mir einen Hand­lungsimpuls aus, wodurch ich praktisch handlungsunfähig bin (allein schon dadurch, dass ich nach zwei Metern die Arme übervoll mit aufgesammelten Krams habe, der wahlweise in den Müll, die Wäsche oder einen Schrank gehört). Das Ganze sieht dann etwa so aus: Ich laufe die Treppe runter (will Tatort sehen). Der ganze Raum ist voll mit Dingen (Bauklötze, Murmeln, Autos, Klamotten – auf­räumen!). Da ist ein Boden (saugen! Nein: wischen!). Oben eine Decke (ein Fußabdruck???), Wände (echt schon renovieren?), Vorhänge (bald mal waschen). Da ist ein Tisch voll mit Abendbrot­resten (Aufschnitt in den Kühlschrank. Kindergartenbrote für morgen machen), Teller (Spülmaschine), Milchpfütze (sofort auf­wischen – ach ja, keine Hand frei). Da sind Kuchenreste, das Bild an der Wand (beschmiert). Ein Buch liegt unter dem Stuhl (noch in die Hand nehmen). Der Mann (schon vor der Glotze, Neid), Mann und Fernseher reden beide (hä?). Kleine Tochter weint im Bett (schnell trösten, nee schon aufgehört). Da kommt kein Licht mehr aus der Lampe (Mann Bescheid sagen). Willis Jacke und Mütze liegen am Boden (aufhängen). Ein Fleck auf dem Polster (kurz abkratzen). Alle Sachen fallen mir aus der Hand (nerv). Sammle den Müll und bring ihn zum Mülleimer (Willis Schuhe!). Lasse alles liegen, setzte mich aufs Sofa, bekomme Fernsehen (endlich! Jetzt noch Kuchen!).
Am Ende bin ich nicht sicher, wer von uns eigentlich gestörter ist. Willi hat auf jeden Fall mehr Freude dabei. Dafür kann ich schon selbst die Glotze anschalten.