Birte Müller

Rollenvorbilder. Rosa oder Riesenschlange?

Nr 184 | April 2015

Alle sind sich einig: In Kitas und Grundschulen fehlen Männer! Diese Meinung hatte auch ich immer vertreten, be­sonders seit Olivia im Kindergarten eine aufgestylte Erzieherin vergötterte, die maximal 50 kg wog und die mit den Mädchen in der Kita die Nägel lackierte. Sie betonte gerne, wie gut Olivia lange Haare und die Farbe Rosa stünden – und sie wollte ihr mit dem Argument das Nuckeln abgewöhnen, dass sie später mit schiefen Zähnen keinen Mann bekommen würde.
Auf jeden Fall dachte ich, dass ich mir mehr männliche Erzieher wünschen würde – bis zu dem Tag, als in Olivias Kindergarten Kevin auftauchte. Er war in der Ausbildung und in den Augen der Kinder ein Superheld. In meinen Augen war er schlicht ein Angeber.
Das Gute an Kevin war, dass Olivia uns regelmäßig von seinen Heldentaten berichtete und wir deswegen sehr viel zum Lachen hatten. Das erste Mal fiel sein Name, als meine Tochter uns belehrte, wie man vor Wildschweinen flüchtet: Man muss nämlich plötzlich zur Seite springen, die Wildschweine laufen dann weiter geradeaus. Auf meine Frage, wer ihr denn diesen tollen Trick erzählt habe, erfuhr ich, es sei Kevin gewesen, der neue Mann im Kindergarten, der nämlich selber schon mal vor einer Horde Wildschweinen geflohen sei. Ich wunderte mich eine Weile, wie denn ein erwachsener Mann Kevin heißen konnte – bis mir einfiel, dass natürlich die vielen kleinen Kevins der 90er-Jahre jetzt alle schon über 20 sein mussten. Aber so richtig erwachsen kam er mir dann doch nicht vor.
Bald erfuhren wir von Olivia – in gewichtigem Tonfall –, dass Kevin schon einmal auf einem Vulkan gewesen sei. Ich versuchte sie daran zu erinnern, dass sie selbst auch schon einmal auf einem Vulkan gewesen sei, und zückte ein paar Urlaubsfotos aus Lanzarote, auf denen ihr Papa über einer heißen Schlucht für uns Würstchen grillte – was ich unglaublich cool fand. Aber Olivia beeindruckte das nicht weiter, denn Kevins Vulkan war einer mit sprühender Lava gewesen! Außerdem war er bis zum Krater hochgeklettert, wo er sein Kaugummi hineingespuckt und gerufen hatte: «Kau­gummi im Anmarsch!» Das Echo hatte dann die Worte «Kaugummi im Arsch-Arsch-Arsch» zurückgerufen. Na ja.
Natürlich war Kevin auch schon vielen gefährlichen Tieren begegnet. Skorpionen zum Beispiel oder Vogelspinnen. Der alte Poser zeichnete für die Kinder diese Tiere dann vor, die sie begeistert ausmalten. Kevin hatte auch schon gegen eine Schlange gekämpft. Klar. Solche Märchengeschichten waren natürlich sehr lustig für meinen Mann und mich, aber die Ausmalbilder fand ich doof, denn Olivia malt selbst viel schönere Riesenkraken.
Zur Bundestagswahl nahm ich Olivia mit ins Wahllokal und versuchte ihr, so gut ich konnte, klarzumachen, worum es ging. Letztendlich begriff sie, dass wir den neuen Chef (oder natürlich die Chefin) für Deutschland wählen würden.
Als meine Tochter auf dem Heimweg fragte, ob ich Kevin angekreuzt hätte, begriff ich nicht sofort, was sie meinte. Olivia hätte auf jeden Fall Kevin als neuen Deutschland-Bestimmer gewählt. Mein Mann und ich waren ganz froh, als wir hörten, dass Olivia in der Vorschule eine Lehrerin bekommen würde.