Kirsten Milhahn (Text & Fotos)

Die Magie der Felsen

Nr 204 | Dezember 2016

Lalibelas Felsenkirchen aus dem späten 12. oder frühen 13. Jahrhundert gelten weltweit als einmalige Wunder der Baukunst: Sie sind nicht gemauert, sondern in tiefen Gruben in den Felsboden gehauen. Ihre Wände, Säulen, Fenster und Türen sind aus einem Stück bis zu zwölf Meter tief ins terracotta-rote Vulkangestein gemeißelt. Einige dieser Kirchen sind über Tunnel miteinander verbunden. Sie zählen zum UNESCO-Weltkulturerbe und bis heute zu den heiligsten Stätten der mehr als 1600 Jahre alten äthiopisch-orthodoxen Religion.

Im Morgengrauen treibt der Wind sakrale Gesänge und Gebetsfetzen über dunstige Hügel. Menschen in weißem Leinen beeilen sich, zur Messe zu kommen. Es ist der Festtag des «Heilands und Welterlösers», den die Priester von Bet Medhane Alem, der «Kirche des Welterlösers», einmal im Monat begehen. Und es ist ein heiliger Tag in Lalibela, einem Städtchen inmitten des Wollo-Hochlands im Norden Äthiopiens.
Bet Medhane Alem ist die größte seiner elf gut erhaltenen Felsenkirchen. Steht man vor ihr, schaut man erst mal zu ihr herab und steigt über einen schmalen Treppengang in die Tiefe. Im Innern des Kirchenschiffs lege ich den Kopf in den Nacken und muss staunen. Über zehn Meter hoch ragen ihre steinernen Säulen in die Höhe. Die Priester sitzen im Halbdunkel des Mittel­schiffs auf dicken Teppichen am Boden und schlagen Trommeln im Takt ihres Gesangs.
Der Legende nach soll Gott persönlich vor rund 1000 Jahren im Traum zu Lalibela gesprochen haben, dem «König der Bienen» und einstigen Herrscher über das Reich Lasta in Nordäthiopien. Er habe ihm befohlen, im kargen Hochland eine heilige Stätte zu errichten, getreu nach dem Bild Jerusalems.
In nur wenigen Tagen soll der König eigenhändig die monumentalen Bauten ins Lavagestein gemeißelt haben, nachts hätten ihm Engel geholfen. So zumindest berichten es lalibelische Reise­begleiter – und so glaubt es fast jeder im Ort. In wissenschaft­lichen Kreisen wird ange­nommen, es habe mindestens 40.000 Bauleute bedurft und Jahrzehnte gedauert, um jede einzelne der Kirchen aus dem Fels zu schlagen.

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Fotos: © Kirsten Milhahn | Durch die Bildgalerie geht's per Klick auf die Klammern

Bet Giyorgis gilt hiebei als handwerkliches Meisterstück – das ist ihrem kreuzförmigen Grundriss geschuldet. Abseits der anderen Kathedralen ruht sie zwischen sanft geschwungenen Hügeln auf einer Anhöhe im Fels. Warmes Licht dringt durch die Fensterkreuze ins Innere und erleuchtet die vier symmetrisch angeordneten Seitenschiffe.

Wer Lalibela besucht, entdeckt allerdings nicht nur früheste christliche Religionsgeschichte, sondern einen ganzen Mikrokosmos Äthiopiens. Das Städtchen vereint atemberaubende Gebirgs­formationen mit Gastfreundschaft und einem Hauch von Jenseitigkeit. Wer dies erkunden will, macht es wie die Bauern der Gegend und geht zu Fuß – mit einem Esel als Gepäckträger.
Meiner kennt den Weg. Stundenlang trottet er geradeaus über Ebenen, die die Sonne gelb und trocken gebrannt hat. Genügsam trägt er unser Wandergepäck fest verzurrt auf seinem Rücken. Zusammen mit Bergführer Fentaw Asnake durch­quere ich raschelnde Eukalyptushaine und winzige, aus Lehm errichtete Rundhüttendörfer. Nach dem Festtag des «Heilands und ­Welt­­erlösers» ist das der erste Tag unserer Wanderung durch das Wollo-Hochland, eine von bizarren Bergen und tiefen Schluchten geprägte Landschaft.
Meinen Reisebegleiter und den Esel habe ich bei TESFA (Tourism in Ethiopia for Sustainable Future Alternatives) gefunden, einer Organisation junger Bergführer mit Sitz in Lalibela.
Hinter dem sperrigen Namen steckt eine einfache, aber sinnvolle Idee: Der Tourismus soll der Region nützen, anstatt nur Reiseunternehmen aus der Hauptstadt Addis Abeba oder dem Ausland davon profitieren zu lassen. TESFA will, dass die Einnahmen in Lalibela und den umliegenden Dörfern bleiben. Zudem sollen die Unterkünfte ökologisch nachhaltig geführt sein. TESFA startete vor zehn Jahren als internationales Hilfsprojekt. Heute leben davon ein paar Dutzend Bergführer und Hunderte Familien in den Dörfern, die im Namen des Vereins elf gemütliche Gästehäuser betreiben.

Unser Esel macht halt am Gasthof Mequat Mariam. Die Unterkunft besteht aus drei runden Wohnhütten ohne Strom und einem Küchenhaus. Dazu ein Klohäuschen mit Freiluft-Dusche, zivilisatorisch gesehen ist das alles. Die Landschaft ist dafür umso spektakulärer: Direkt hinter den Hütten fällt die Ebene mehrere hundert Meter steil ab in eine Schlucht – kilometerweit erstreckt sich eine schroffe Hügellandschaft, die an den Grand Canyon erinnert.
Mit den ersten Sonnenstrahlen des Tages wandern wir weiter – auf schmalen Pfaden die Schlucht entlang durchs Hochland, immer dem Packesel nach.
Dscheladas, Blutbrust­paviane, die es nur in Äthiopien gibt, lungern zwischen den Felsen am Wegrand. Bartgeier ziehen ihre Kreise. Wir halten Ausschau nach dem Äthiopischen Wolf, dem seltensten aller Wildhunde. Wir laufen über die Hochebene, in der die Bergbewohner gerade die Hirseernte einbringen, hinab ins Tal.
Jäh werde ich aus meiner inneren Stille gerissen, als wir wieder eintauchen in Lalibelas lärmende, staubige Straßen. Es ist Markttag. An unzähligen Ständen häufen sich kleine Hügel aus Teff, der Zwerghirse. Weiße Tücher mit bunten Borten flattern im Wind. Die Luft riecht nach Gewürzen, und es herrscht ein Gedränge, als wären alle Bewohner der Stadt auf einmal unterwegs. Junge Männer in Jeans, Priester in weißen Gewändern und schmale Frauen in bunten Kleidern. Am Abend will mir Fentaw einen ganz besonderen Ort in Lalibela zeigen.
Wir biegen zu Fuß von der Hauptstraße in eine dunkle Seitengasse ab, die an einem Berghang entlang zwischen abschüssigen Gärten mäandert. Im Lichtkegel unserer Taschen­lampen gelangen wir an eine halboffene Pforte, steigen in einen Innenhof hinab und treten durch die Seitentür in einen festlich halb erleuchteten Wirtsraum voller lärmender Gäste und Masinko-Musik. Im Torpido Tej House, dem beliebtesten der traditionellen Lokale im Ort, lerne ich, dass dem «Bienenkönig» Lalibela offen­bar noch mehr zu verdanken ist als nur die Felsenkirchen.
Tej, wie ihn Wirtin Askalech Hailemelekot serviert, geht auf ihn zurück und ist ein verführerisch süßer und ebenso gefährlicher Honigwein. Fentaw und ich stoßen noch mal mit einem Tej an – und noch mal. Und dann führt sprichwörtlich eine Schnapsidee zum Höhepunkt meiner Reise.

Mehr als vierzig Kilometer von Lalibela entfernt liegt mitten im Gebirge die Felsenkirche Yemrehanna Kristos. Diese Kirche ist rund 100 Jahre älter als die anderen, besonders gut erhalten und gilt als die schönste der monolithischen Kirchen in der Region. Yemrehanna Kristos ist schwer zugänglich und kaum besucht. Gerade deshalb wollen wir hin, quer durchs Hochland. «Mit dem Gelände­wagen? Kann doch jeder», winkt Fentaw ab und hat eine viel bessere Idee: Wir reisen im Tuk Tuk von Wondimu Kebede.
Seit etwa fünf Jahren karrt der junge Mann damit Tag für Tag Leute durch den Ort. In den Bergen allerdings war er damit noch nie. Bald rumpelt das knallblaue Gefährt mit mir auf dem Rücksitz von den lalibelischen Hügeln hinab ins Tal und säuft gleich an der nächstbesten Anhöhe ab. Zu staubig – befindet Wondimu, und macht sich daran, den verdreckten Verteiler zu säubern. Anlassen, anschieben, los. Das Dreirad quält sich den nächsten Buckel hinauf – und wieder säuft es ab. Reinigen, anschieben, fertig! Vier unfreiwillige Stopps und etliche Steigungen später schnurrt das Gefährt endlich ohne weitere Zwischenfälle über den Serpentinenpfad. Wir durchqueren Bergdörfer, deren Bewohner zwar schon von einem Tuk Tuk gehört, aber nie eines zu Gesicht bekommen haben. Begeistert winken sie am Wegesrand. Kinder rennen kreischend hinter uns her. Nach vier Stunden gelangen wir tatsächlich ans Ziel.
Yemrehanna Kristos ist in eine natürliche Höhle am Berghang gebaut und in jeder Hinsicht anders als der Rest der Lalibela-Kirchen. Nur Steinplatten und Holzbohlen hätten ihre Erbauer verwandt – ohne einen einzigen Nagel einzuschlagen, erzählt der Priester. Tausend Jahre schon zöge Yemrehanna Kristos Geistliche in ihren Bann. Dann deutet er in die dunkelste Nische des Kirchhofs. Dort lagern die mumifizierten Überreste von mehr als 700 orthodoxen Pilgern, etwa aus Israel oder Ägypten. Sie waren gekommen, um das Heilige Lalibelas zu erfahren. Sie sind geblieben.
Ich bleibe nicht. Dafür nehme ich eine Gewissheit mit. Man muss nicht religiös sein, um die Bedeutung dieser Gegend zu spüren. Bauwerke, von denen keiner so genau weiß, wie sie entstanden sind, Kerzenflackern im Halbdunkel der Kirchenmauern, mystische Gesänge und ausgelassene Tänze in einer überwältigenden Berglandschaft. Das Gefühl, dass Lalibela magisch ist, kommt von ganz allein.