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Michael Stehle

Rainer Maria Rilke zum 90. Todestag

Nr 204 | Dezember 2016

Welche Aktualität hat die Dichtung Rainer Maria Rilkes (4.12.1875 – 29.12.1926) heute noch, – 90 Jahre nach seinem Tod? Wird er lediglich in jedem Kanon genannt, da sein Name ebenso wenig wegzudenken ist wie der Goethes oder Kafkas? Und wenn ja: Warum ist dies so?
Zweifellos hat er – vor allem mit seiner späten Dichtung – eine neue Epoche begründet, man kann sagen: Es gab eine deutschsprachige Dichtung vor und eine nach Rilke. Seine Sonette an Orpheus und die Duineser Elegien sind zeitlose Zeugen einer intensiven Arbeit an der Sprache, beide bedeuten den Gipfel seines Schaffens und wurden zwei Jahre vor seinem Tod erstmals veröffentlicht. Interessant dabei ist, dass die Sonette im Reim und Aufbau streng der klassisch vorgegebenen Form folgen, die Duineser Elegien dagegen jegliche bekannte Gedichtform hinter sich lassen. Ihre dichterische Form ist der Rhythmus, in den man wie hineingezogen wird, wenn man diese Texte laut liest.
Diese Meisterschaft zu erreichen, war für Rilke kein leichter Weg. Wie kaum ein anderer Dichter hat er oft jahrelang an seinen Gedicht-Zyklen gearbeitet, Krisen durchstehen müssen und immer wieder bereits Entstandenes umgearbeitet oder ver­worfen. Anderes schrieb er eigenen Aussagen zufolge «wie ein Zitat» in kürzester Zeit nieder. Eines seiner berühmtesten Prosa-Werke zum Beispiel, Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke, hat er als 24-Jähriger in einer einzigen Nacht verfasst. (Das Buch wurde später zum Band 1 der noch heute als Liebhaber-Reihe geschätzten Insel-Bücherei.) Und auch die 55 Sonette an Orpheus seien in nur einem einzigen Monat entstanden. Die Arbeit an den Elegien dagegen erstreckte sich über ganze zehn Jahre.
Was Rilkes Werk für viele Leser bis heute so einzigartig erscheinen lässt, liegt in der «reifen Emotionalität» seiner Poesie begründet. Es ist viel darüber geschrieben worden, dass sein Schreiben nichts als eine lebenslange Suche nach einer individuellen Religiosität gewesen sei. Am Christentum hat er sich regelrecht «abgearbeitet» – um letzten Endes seinen ganz eigenen Zugang zum Glauben zu finden, der beispielsweise nicht auf die Anwesenheit von Engeln verzichten möchte, dabei aber weit entfernt von traditionellen Überlieferungen bleibt: «Ein jeder Engel ist schrecklich», heißt es etwa in der ersten der Duineser Elegien, womit er jeglicher Süßlichkeit einer Geborgenheit im religiösen Wunderglauben eine deutliche Absage erteilt.
Alfred Schütze schreibt in seiner einfühlsamen Biografie Rainer Maria Rilke – Ein Wissender des Herzens: «Die Weisheitsschätze, die in seinen Dichtungen umgeschmolzen und ver­arbeitet ans Licht treten, entstammen zumeist nicht einer erkenntnismäßigen Einsicht des Verstandes … Das ist kein Mangel an Persönlichkeit; denn es kann nicht die Aufgabe des Künstlers sein, sein Werk erkenntnismäßig auszubauen. Ihm darf es genügen, es geschaffen zu haben. Der Nachwelt fällt die Aufgabe zu, sein Werk nicht nur liebend zu genießen, sondern in all seinen Tiefen ahnend zu verstehen.»*
Damit beschreibt Schütze genau das, was Rilkes Poesie für viele Leser bis heute so anziehend macht: Ähnlich der nicht figürlichen Malerei lassen sich seine Gedichte nicht auf die eine endgültige Art interpretieren. Dadurch wird ihre Lektüre zu etwas Zeitlosem, das in jeder Lebensphase eine neue Färbung erfährt.