Ulrich Meier im Gespräch mit Jean-Claude Lin

Können wir den Glauben freigeben?

Nr 205 | Januar 2017

Ulrich Meier ist seit 26 Jahren als Priester in der Gemeindearbeit und zur Zeit auch als Leiter des Hamburger Priesterseminars und Redakteur der Zeitschrift «Die Christengemeinschaft» tätig. Der 56-Jährige ist verheiratet, Vater und Großvater. Das Gespräch zum Auftakt des Luther- und Reformationsjahres ist Fragen der religiösen Autonomie und Gemeinschaftsformen gewidmet, die freilassende Zuge­hörigkeit ermöglichen. Welche Zukunft haben die Kirchen – und welche hat das Christentum selbst?

Jean-Claude Lin | Herr Meier, wann sind Sie zuletzt von der katholischen Messe berührt worden?
Ulrich Meier | Das kann ich genau sagen. Es war im März 2016, als ich mit meiner Frau in Krakau bei den Dominikanern war. Ich schätze die Krakauer Drei­faltigkeitskirche, weil dort eine gepflegte Liturgie zu erleben ist. Und es hat mich wieder einmal berührt, zu sehen, mit welcher tänzerischen Leichtigkeit und gleichzeitig tiefen inneren Frömmigkeit der Gottesdienst gestaltet wird. Am Freitagmittag übrigens – und die Kirche war voll mit allen Generationen. Ich habe sogar gemeint, von der Predigt in Polnisch etwas zu verstehen. Der Prediger machte auf mich jedenfalls den Eindruck eines sympathischen Gelehrten.

JCL | Am 3. Januar 1521 wird mit der Bannbulle Decet Romanum Pontificem Martin Luther aus der Heilsgemeinschaft der Kirche ausgeschlossen. Das waren nur knapp drei Jahre und zwei Monate nach seinem Anschlag der 95 Thesen über die Ablässe. Was war da geschehen, dass er ausgeschlossen wurde, dass die Reformation so ihren Gang nahm und die Trennung der Kirche stattfand?
UM | Je älter ich werde, desto mehr Lust hätte ich, Luther zu fragen, wie schwer es ihm eigentlich gefallen ist, den Ausschluss zu riskieren.

JCL | Wollte er das gar nicht?
UM | Zunächst wollte er sicher nur seine Kirche ändern, nicht eine andere Kirche gründen. Aber wie stark muss dieser Anstoß gewesen sein, um das in Kauf zu nehmen? Für mich ist dafür das Schicksal des katholischen Theologen Eugen Drewermann hilfreich, der bis zu seiner Pensionierung davon gesprochen hat: «Es ist meine Kirche» – obwohl er nicht mehr predigen durfte. Er ist ja ein Zeitgenosse von uns, ist von seinem Erzbischof Johannes Joachim Degenhardt in Paderborn vom Kirchendienst ausgeschlossen worden. Als Priester durfte er nicht mehr tätig sein, weil er gewagt hatte, in einem Spiegel-Interview darüber zu sprechen, dass man die Jungfrauengeburt und die Auferstehung nicht historisch verstehen müsse. Das war zu viel für den Bischof. Drewermann selbst hat sich aber lange Zeit nicht lossagen mögen von dieser, seiner Kirche. Er selbst glaubte an die Auferstehung, aber er hat offenbar zu viel Verständnis gezeigt für diejenigen, die nicht glauben können. Aber, um auf Luther zurückzukommen: Die Entwürdigung durch den Ablasshandel muss ihn als katholischen Christen so schwer getroffen haben, dass er am Ende konsequent sein und sagen musste: Dann kann ich nicht mehr dabei sein, wenn meine Kirche darauf beharrt.

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JCL | Können Sie kurz schildern, worum es beim Ablasshandel ging?
UM | Verständnis und Praxis der Sündenvergebung waren degeneriert. Der Priester sollte eigentlich nur die Beichte hören, also Bekenntnis, Reue und Vorsatz zur Besserung wahrnehmen. Es war seine Aufgabe, die Lossprechung von den Sünden und das Auferlegen der Buße zu vollziehen. Dieser Vorgang, der eigentlich einen intimen sakramentalen Raum braucht, war veräußerlicht worden: Man konnte zu Luthers Zeiten sogenannte Ablassbriefe kaufen, die von der Kirche ausgestellt waren für Sünden, die man noch gar nicht begangen hatte.

JCL | Vorneweg? So auf Vorrat? Sodass man dann ruhig sündigen konnte, weil man schon den Ablass bekommen hatte?
UM | Es ging nicht mehr wirklich um eine innere Wende, wie es bei der Buße früher selbstverständlich empfunden wurde, sondern um eine Art Geschäft. Ich bezahle Geld, und dafür übernimmt die Kirche meine Schuld. Geld statt Buße – das war der Anstoß für Luther.

JCL | Hat die katholische Kirche inzwischen diesen Ablasshandel eingestellt?
UM | Natürlich. Die römische Kirche hat zu allen Zeiten nach Reformen gesucht. Und kein katholischer Priester, kein katholischer Theologe würde heute sagen: Luther war völlig im Unrecht.

JCL | Es heißt aber auch, durch die Reformation sei das Evangelium wiederentdeckt worden und dies sei der eigentliche Kern im Unterschied zur katholischen Kirche. Was heißt, das Evangelium wiederzuentdecken? War es nicht mehr vorhanden in der katholischen Kirche?
UM | Es war bis zu Luthers Zeiten nicht von der Kirche gewollt, dass die Gläubigen selbst in der Heiligen Schrift lesen, sondern die Priester wählten aus, was im Gottesdienst oder zu anderen Anlässen verkündet wurde. Dann kam es zum Zusammenspiel von Luther und Gutenberg: Es trat ein Unter­nehmer auf und sagte: «Ich könnte die Bibel drucken.» Und dies wiederum traf mit Luthers Bedürfnis zusammen, die Heilige Schrift als die eigentliche Offenbarungsquelle des Christentums ganz neu zu entdecken. Vor allen Dingen aber, sie jedermann zugänglich zu machen, auch durch seine Übersetzung. Die Bibel ist bis heute das meist gedruckte Buch. Und das haben wir diesem Zusammenspiel von reformatorischer Erneuerung – wie kann der Einzelne durch das Evangelium unmittelbar an die Quelle der gött­lichen Offenbarung kommen – und Erfinder- und Unternehmergeist zu verdanken.

JCL | Sie gehören einer Kirche an, der Chris­tengemeinschaft, die sich auch «Bewegung für religiöse Erneuerung» nennt, und die zum großen Teil von angehenden evangelischen Theologinnen und Theologen gegründet worden ist. Warum? Was wollten diese Menschen, die meinten, sie könnten das nicht innerhalb der evangelischen Kirche oder der katholischen Kirche finden? Was wollten sie denn erneuern, reformieren?
UM | In ihnen lebte eine Sehnsucht nach Spiritualisierung, nach einem tieferen Verständnis des Göttlichen, als es die damalige Theologie zu bieten hatte. Und sie suchten und fanden durch die Vermittlung Rudolf Steiners entsprechende neue Gottesdienst­formen. Beides sollte den Bereich der religiösen Erfahrung stärken, also den un­mittel­baren Zugang jedes einzelnen Menschen zu gött­licher Wahrheit und zur Begegnung mit Gott. Sie suchten nach einer Predigtkultur, die durch Anschaulichkeit den Glauben unmittel­bar anspricht. Es wurde zum Ideal, so zu predigen, wie es Jesus selbst getan hat – in Bildern, die zwar in der Aussage weniger klar sind als intellektuelle Gedanken, dafür aber viel tiefer gehen
können. Rudolf Steiner unterstützte sie darin, das religiöse Leben, nicht die Theo­logie ins Zentrum ihrer Bemühung zu stellen. Man kann das als eine Art reformatorischen Schritt der Christengemeinschaft ansehen: Diese Religionsgemeinschaft gründet sich nicht auf einen gemeinsamen Glauben, eine vorgegebene und für alle verbindliche Lehre, sondern auf die Ver­bundenheit mit Zere­monien, mit einem sakramentalen Leben. Wer zu dieser Kirche gehört, hat keinen fest umrissenen Glauben, sondern erlebt die Sakramente als Teil seines Lebens. Das ist ein großes Wagnis, denn wir müssen uns die Frage stellen: Können wir den Glauben tatsächlich freigeben? Und was geschieht dann mit dem Glauben und mit uns Gläubigen? Und wie verbindet sich mit einem solchen freigegebenen Glauben das Leben in sakramentalen Formen, die über Generationen hinweg gleich bleiben?

JCL | Sie haben ein Buch mit dem Plädoyer für eine permanente Reformation heraus­gegeben. Wie aber bekommt man diese beiden Elemente verknüpft – Sakramente mit einer festen Form und eine permanente Reformation?
UM | Ich denke, es geht dabei um die Spannung zwischen Autonomie und Zugehörigkeit. Echter Glaube verlangt den indivi- duellen und selbstbestimmten Zugang zur Wahrheit. Drewermann hat es vor 25 Jahren im eingangs erwähnten Spiegel-Interview so gesagt: «Jeder sollte das Recht haben, in der Form zu glauben, die ihm hilft, sein Leben zu leben ...» Er gibt damit aber auch ein Stichwort für das, was im Sakrament wirksam werden kann: Dass mein Leben unmittelbar berührt und durchdrungen wird von der Anwesenheit Gottes, die uns im Evangelium verheißen ist: «Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende» (Mt 28,20). Darin liegt für mich eine umfassende Zugehörigkeit, die persönliche Autonomie nicht in Frage stellt, sondern sogar bedingt.

JCL | Worin lässt sich das im Sakrament erfahren?
UM | Lassen Sie es mich mit einem Luther-Zitat versuchen: «Der Glaube ist ein neuer Sinn weit über die fünf Sinne hin.» Glaube hat eben auch die Lebensseite, er ist die Kraft, aus der ich mich – tätig und sinnlich – mit etwas verbinde. Er ist leider philosophisch immer wieder reduziert worden auf eine Zustimmung zu etwas, was ich selbst nicht überschaue. Nach Luther ist der Glaube aber ein Wahrnehmungsorgan. Rudolf Steiner hat die Anregung gegeben, es noch deutlicher zu fassen: Der Glaube ist eigentlich eine Kraft der Beziehung. Was wir, durchaus in einem freien Verständnis der vorbildlichen Taten Christi, als Zeichen in unserem Leben und an der Welt tun, stiftet zweifach Verbundenheit: eine Zugehörigkeit zu Gott und untereinander. Der Glaube an die Auferstehung wird im sakramentalen Handeln zu einem sinnstiftenden Teil meines Lebens. Dabei kann zum freigegebenen Inhalt die rituelle, d.h. in Treue gepflegte Form des Glaubens hinzukommen.

JCL | Mit der Freiheit des Glaubens lässt sich sicher gut leben, aber ist Kirche als institutionelle Gemeinschaftsform noch zeitgemäß?
UM | Das ist eine existenzielle Frage: Lässt sich das Bild der christlichen Gemeinschaft als Leib des Auferstandenen für die Gegenwart fruchtbar machen? Wie die Antworten auf diese Frage ausfallen werden, weiß ich nicht. Ich vertraue dabei aber auf die dem Christentum innewohnende reformatorische Kraft, sich in jeder Zeit neu zu finden – eine fortwirkende Auferstehung.

JCL | Könnte jeder Pfarrer der Christengemeinschaft ein eigenes Verständnis der Auferstehung haben?
UM | Er muss es sogar haben! Und selbst­verständlich nicht nur die Pfarrer ...