Elisabeth Weller im Gespräch mit Maria A. Kafitz

Ungeteilte Aufmerksamkeit

Nr 206 | Februar 2017

Wir können es überall tun – im Liegen, im Stehen und im Sitzen, ob allein gemütlich zu Hause, unterwegs in der Bahn oder gemeinsam mit anderen Interessierten: lesen. Für Elisabeth Weller, die nach ihrem Studium der Allgemeinen und Vergleichenden Literatur­wissenschaft das Lesen sogar zum Beruf gemacht hat, einen «Literarischen Salon» gründete und leitet, bedeutet dies in Anlehnung an Vladimir Nabokov: «Lesen Sie gründlich, liebkosen Sie die Details.» In ihren Salons diskutiert sie mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern über Strukturen und Stilmittel, dringt in die Tiefen der Texte und hinterfragt die Fragen der Figuren. Vor allem aber begeistert sie Menschen für die Schönheit von Büchern, für die ihr Herz leidenschaftlich und intensiv schlägt: www.elisabethweller.de

Maria A. Kafitz | Liebe Frau Weller, vor unserem Gespräch las ich mal wieder ins Buch Frauen, die lesen, sind gefährlich von Stefan Bollmann. Welche Gefahr geht denn von Ihnen aus mit dem, was Sie tun?
Elisabeth Weller | Ich glaube generell, dass Lesen etwas sehr Gefährliches beinhaltet, weil es dabei um Erkenntnisgewinn geht. Das ist letztlich nichts Frauenspezifisches. Ich persönlich habe diesbezüglich eine gravierende Vita hinter mir, weil mir das Lesen quasi verboten worden ist, denn wenn ich gelesen habe, habe ich ja nicht gearbeitet, nichts «geschafft», wie’s bei uns im Schwäbischen heißt. Damit wurde mir anfangs das Anreichern von Bildung verwehrt – und dadurch auch die Entwicklung freier Entscheidungen.

MAK | Sie haben in einem Interview sogar einmal gesagt, dass das Lesen Sie gerettet hat.
EW | Ja, es war eine Rettungsplanke für mich. Denn mein soziales Umfeld auf dem elterlichen Hof und im Gasthaus war nicht gerade so, dass ich mich daran hätte orientieren können – oder gar orientieren wollen. Durch die Literatur aber – ich war Stammgast in der Leihbücherei – habe ich einen Zugang zu ganz anderen Welten bekommen. Insofern war das Lesen Fluchtraum und Rettungsplanke in einem.

MAK | Und Sie haben dies zu Ihrem Lebensinhalt gemacht, denn seit mittlerweile elf Jahren leiten Sie im Literaturhaus Stuttgart einen «Literarischen Salon». Was hat es damit auf sich?
EW | Während und nach meinem Studium habe ich viele Vorträge über die Salonkultur gehalten, mich vor allen Dingen mit Rahel Varnhagen beschäftigt, die im ausgehenden 18. Jahrhundert den berühmtesten Salon in Deutschland geführt hat. Hierbei ist mir sehr bewusst geworden, was für clevere Frauen das waren, die diese Salons leiteten. Wir sind also doch wieder bei Ihrer Einstiegsfrage und den «gefährlichen Frauen», und zwar dergestalt, dass man sagen kann: Es gab nur einen einzigen Grund, warum diese Frauen – und es waren in der Anfangszeit nur Frauen – Salons gegründet haben: weil sie keinen Zugang zur Bildung hatten, keinen zur Universität. Aber sie hatten interessante Ideen und wollten den Kopf nicht in den Sand stecken. Also sagten sie sich: Wenn wir nicht kommen dürfen, dann laden wir eben ein! Und alle kamen. Varnhagen hat nicht nur interessante Bücher bekommen, sondern zugleich auch kluge Gesprächspartner; sie hat sich quasi ihre Privat-Uni gezimmert. Mich hat das immer fasziniert. Heute haben wir diese Einschränkungen in unserem Kulturkreis zwar nicht mehr, aber die Möglichkeit, anregende und vertiefende Gespräche über Literatur zu führen, müssen wir uns dennoch erst wieder schaffen. Warum also keinen eigenen Salon gründen, dachte ich mir da.

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Fotos: © Wolfgang Schmidt | www.wolfgang-schmidt-foto.de | Durch die Bildergalerie geht's per Klick auf die Klammern

MAK | Literatur kann nicht ohne die Tätigkeit des Schreibens und des Lesens gedacht werden. Sie haben einen Ort geschaffen, an dem man zudem über das spricht, was man gelesen hat. Wie aber kommen die Menschen erst einmal zum Lesen? Und wie empfehlen Sie aus dem fast unüberschaubar großen Spektrum an Themen und Titeln die zu lesenden Bücher?
EW | Viele Menschen, die zu mir kommen, sind natürlich Gerne­leser. Viele suchen aber auch Orientierung. Natürlich, man kann die Buchhändlerin seines Vertrauens fragen (wenn es sie noch gibt); das ist eine wunderbare Beziehung, die man auch aufbauen kann. Und man kann sich an Auszeichnungen und Listen halten, die immer wieder ausgegeben werden. Hierbei haben viele jedoch die Erfahrung gemacht, dass sie damit nicht zu­frieden sind. Mein Salon springt da quasi in die Bresche, weil er keine «Leserunde» ist, sondern vom Profil her etwas ganz anderes. Ich verlange ja auch Geld dafür – und ich gebe Orientierung, das heißt, bei mir kann man sich darauf verlassen, dass die Bücher, die ich aussuche, extrem sorgfältig und von Moden und Ver­lagen unabhängig ausgewählt werden.

MAK | Und wie werden Sie selbst fündig?
EW | Ich beobachte mit akribischem Auge und – ich habe ja mittlerweile über die Jahre einen «Feinschmeckergaumen» für Literatur entwickelt – natürlich auf dem Fundament meines Studiums. Ich beobachte Tag für Tag Neuerscheinungen. Die lese ich, die prüfe ich, die schaue ich mir genau an – nicht nur das deutschsprachige Umfeld, sondern auch das internationale. Zu diesem zweiten Punkt kommt noch ein dritter, und der, so glaube ich, macht mein spezifisches Profil aus: Ich lese in meinen Salons zudem beständig Klassiker.

MAK | Was ist denn für Sie ein «Klassiker»? Sind das «nur» Goethe, Kafka und Flaubert? Oder was macht ein Buch, eine Autorin oder einen Autor zum Klassiker?
EW | Ein Klassiker, um es ganz kurz zu fassen, ist ein Buch, von dem wir sagen können, dass es bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag Gültigkeit haben wird. Das wird im Grunde genommen bei einem Autor auch schnell deutlich: Hat er ein Anliegen, das über seine Lebenszeit hinaus­weist oder nicht? Es gibt natürlich Autoren, die sagen: Es geht mir hier und jetzt um den Erfolg. Das ist völlig legitim, da habe ich gar nichts dagegen. Aber es gibt eben auch jene, für die ist das überhaupt kein Motiv. Die schreiben, weil sie schreiben müssen. Nehmen wir das Beispiel Imre Kertész, der in einer 15-Quadratmeter-Wohnung in Budapest 13 Jahre lang an seinem Roman eines Schicksallosen geschrieben hat, obwohl er glaubte, ihn nie publizieren zu können. Er konnte sich natürlich nicht vorstellen, dass es eine Wende geben wird, die seine Rettung würde und das Buch doch erscheinen ließ. Beim Lesen ist dieser Drang des Schreibens spürbar. Das ist ein Versuch, die Klassiker-Frage zu beantworten.

MAK | Und wie lautet der zweite …?
EW | Der ist noch kürzer: Ein Klassiker ist das Neueste von gestern. Wenn wir beispielsweise Shakespeare lesen, können wir sogar sagen: Das ist das Allerneueste von gestern. Dieser Mann hat ja im Grunde genommen die Psychoanalyse vorweggenommen. Wir brauchen nur an den Geist im Hamlet zu denken, dieser Geist ist quasi das Freudsche Über-Ich. Das ist unglaublich! Und eine dritte Antwort – das muss bei der Kardinalfrage nach dem Klassiker erlaubt sein – ist die Sprache, die Könnerschaft im Umgang mit Sprache. Shakespeare ist natürlich auch hier eines der besten Beispiele. Bei einem Klassiker können wir außerdem darauf vertrauen: Wenn wir ihn lesen, werden wir uns für sein Thema interessieren, denn es hat etwas mit uns zu tun. Es ist das Allgemein-Menschliche, das getroffen wird, das sozusagen unabhängig von Moden, Zeiten und auch von persön­lichen Vorlieben ist. Es sind die ganz archaischen menschlichen Themen, die sich auch künftig nicht verändern werden.

MAK | Ja, wir können (und wollen) dem Leben und Sterben, dem Lieben und Leiden nicht entgehen. Die Frage ist dabei nur: Wie begegnen uns diese Themen zwischen zwei Buchdeckeln?
EW | Ich kann beispielsweise mit epischer Breite meist sehr wenig anfangen, außer bei Autoren wie Proust, Flaubert, Balzac oder Dostojewski, bei denen die epische Breite dazu­gehört und auch bis zum Ende trägt. Normaler­weise bin ich sehr für die schlanken, die eleganten Bücher. Warum? Für mich ist der Prozess der Verdichtung schon der allerwichtigste Prozess. Was zu sehr in die Breite geht, wie die Bücher des jüngst überall besprochenen Karl Ove Knausgård etwa, dafür brauchen Sie unheimlich viel Lebenszeit.
Ich finde das Projekt von ihm hochinteressant und auch komplett legitim. Aber mich interessiert die Feinheit, dieses Nach-innen-Gehen, das Feilen, das wirkliche Sichtbar­- machen von Form, von Stil, von Sprache. Und das hat oft mit der Reduktion aufs Wesentliche zu tun. Ich präferiere ganz bewusst auch keine Literatur, die in Richtung «Tatort-Realismus» geht. Das ist heutzutage ja eine gewisse Tendenz, die Realität eins zu eins abzubilden. Ich frage mich da immer: Wo ist jetzt der Unterschied zum Journalismus? Der kann das schließlich viel besser, beispielsweise etwas zum Thema Finanzkrise veröffentlichen. Oder ich kann ein gutes Fachbuch lesen. Dafür brauche ich keine Literatur. Literatur ist nicht dazu da, Meinung zu machen.

MAK | Und wofür ist sie da?
EW | Nun, wie soll ich das beschreiben? Ich schaue immer nach einem gewissen «Mehr-Wert». Von Viktor Šklovskij habe ich gelernt: Wesentlich ist die «Selbstreferentialität der Sprache». Das heißt: Einzig die literarische Sprache (die Werbesprache muss man eigentlich dazurechnen) ist eine Sprache, die auf sich selbst verweist via Klang und Gestalt. Alle anderen Sprachformen, so wie wir jetzt kommunizieren oder die Alltagssprache, der Journalismus etc., haben den Anspruch, schnellstmöglich exakte Information zu vermitteln. Literatur aber kann nicht dieses Interesse haben. Ich bin der Meinung, dass große Litera­tur – und damit auch ein Klassiker – eine Sprache findet, die ins Opake geht, ins Schweben, in die Uneindeutigkeit, in die Ungenauigkeit. Von Kafka hat mal jemand gesagt, er führe uns mit der größten Genauig­keit in die Ungenauigkeit. Nehmen wir das Beispiel: «Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.» Viele sprechen vom Käfer, es steht aber nirgends Käfer im Text. Das heißt, dieses U, das Tiefe dieses tiefsten Vokals – und zwar zweifach: ungeheuren Ungeziefer – ist das Entscheidende. Er ist sehr exakt, und gleichzeitig führt er uns mit einer sprachlichen Genauigkeit, auf die ich höchs­ten Wert lege, in die Ungenauigkeit. Wir sollen uns nicht diesen einen Käfer mit den Punkten oder Streifen vorstellen, sondern die Stimmung dieses ungeheuren Ungeziefers.
Gerade das Schweben schärft unser Denken. Dadurch landen wir in einem fantastischen Freiraum. Der ist entscheidend, und den will ich nicht konkreter haben. Das macht für mich immer ein Meisterwerk aus. Henry James, den ich als Autor ungemein schätze, hat davon gesprochen, dass Schreiben eigentlich «Verdampfen» bedeutet. Das heißt fürs Lesen aber zugleich auch: Immer gründlich und genau lesen, denn ohne das kommen wir nicht weiter. Lesen, wirklich lesen, ist: den Worten ungeteilte Aufmerksamkeit schenken. Das ist für mich das Allerwichtigste! Und das gilt ja nicht nur fürs Lesen …