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Ilse Bos

Die wilde Meute

gelesen von Simone Lambert

Nr 206 | Februar 2017

Die Erzählung von Ilse Bos beschreibt ein anarchisches Lebensmodell: dreizehn Kinder, von zwölf bis vier Jahre alt, regeln ihren Alltag ohne Erwachsene. Pola, die Ich-Erzählerin über weite Strecken, hat als die Älteste das Sagen; sie hat zwei Halbbrüder, den Rest der Truppe hat Polas Mutter Tineke in der ganzen Welt aufgelesen und in Pflege genommen. Weiterhin gibt es noch Willem Vanderwerff, den Vater von Pola, und U-Bootkapitän de Witt, Vater von Antonia, die zugleich die Tochter von Tinekes Mutter ist …
Können Sie mir folgen? Versuchen Sie es, denn es lohnt sich! Die Jugendbuchautorin und Journalistin Ilse Bos hat ein ebenso turbulentes wie interes­santes Kinderbuchdebüt vorgelegt.
Pflegemutter Tineke ist im Ausland unterwegs auf der Suche nach Willem, ihrer großen Liebe, während die Kinder sich selbst versorgen. Das gut gehütete Geheimnis ist in Gefahr, als Frau Weiblen vom Jugendamt einen Kontrollbesuch an­kündigt. Der zufällig auftauchende erfolglose Schauspieler Maarten, zufällig auch der Zwillingsbruder von Willem, übernimmt die Rolle des Vaters. Das eigentliche Abenteuer ent­wickelt sich etwa nach einem Drittel des Romans, als die unmittelbare Bedrohung durch das Jugendamt gemeistert ist.
Die Brache vor dem Liegeplatz der Blauschute, auf der die Kinder hausen, wird zunehmend von Neubauten zersiedelt und die Abgeschiedenheit der Kinder gestört, zugleich sackt an
vielen Stellen in der Stadt der Boden weg, die Schule bricht zu­sammen und Wasser vom Hafenbecken flutet die Löcher bis in die U-Bahn-Tunnel – eine städtische Katastrophe. Es ent­wickelt sich eine wilde Suche der Kinder in verschiedenen Teams nach einem neuen Liegeplatz für das Hausboot und nach Willem. Als sich die «Unbezweckten», wie sich ein geheimnisvolles Völkchen von Asseln nennt, den Kindern anschließen, bekommt die Geschichte psychedelische Züge. Die halb unsichtbaren Krabbeltierchen nehmen beispielsweise die Gestalt von Bettlern und Skatern an, von «zwecklosen» Lebe­wesen. Ein Teil der Kinder verirrt sich in den gefluteten Tunneln und muss stundenlang in der Kälte aushalten. Das logistische Ende der Geschichte verlegt den Liegeplatz der Blauschute um hundert Meter, und jedes Kind geht wieder zur Schule. Tineke und Willem, die Eltern, folgen ihrer nomadischen Natur und gehen erneut auf Weltreise, Maarten bleibt als «Vater» bei den Kindern.
Von den dreizehn Kindern treten vier oder fünf vorrangig in Erscheinung. Die Illustratorin Linde Faas weiß in ihren charmanten Aquarellen jedes von ihnen zu charakterisieren; ein
Anhang mit kurzen Steckbriefen der Kinder hilft dem Leser, sich in der Fülle des Personals zurechtzufinden.
Die verwickelten Ereignisse überzeugen den geduldigen Leser durch die geistreiche, witzige und scharfsinnige Erzählkunst der Autorin, die hier ein berührendes Plädoyer hält für die Notwendigkeit des Nutzlosen. Das klassische Motiv der Kinderbande, die ohne Eltern zurechtkommt und in der jedes Kind seinen Beitrag zum Überleben der Gruppe leistet, ist
zugleich der pippieske Traum vom Leben ohne elterliche Kontrolle. Die wilde Meute beschreibt den Freiraum, in dem jedes Kind mit seiner Narbe und Geschichte anerkannt ist. Es ist eine Gemeinschaft, die heilt, weil sie jedem Kind zutraut, so, wie es ist, im Leben zu bestehen. Eine wilde Geschichte, die pädagogischen Wahrheiten auf den Zahn fühlt. Gelungen.