Kirsten Milhahn (Text & Fotos)

Im Dienst des Königs

Nr 209 | Mai 2017

Gelb wie eine Orange hängt die Abendsonne über der afrikanischen Savanne, als Solomon Epodo mit seinem Geländewagen den schmalen Pfad durch das Mugie-Schutzgebiet im Norden Kenias rumpelt. Mit einer Hand hält der 25-jährige Kenianer ein Metall­gestell aus dem Autofenster. Es sieht aus wie eine Fernsehantenne. Auf seinem Schoß liegt ein Ortungsgerät, das an ein Walkie-Talkie erinnert. Eben noch hat es leise vor sich hin gepiepst, doch jetzt ertönt nur noch ein Rauschen. Epodo stoppt den Wagen und klettert mit seinen Gerätschaften auf einen Termitenhügel. Dort schwenkt er die Antenne langsam in alle Himmels­richtungen. Es piepst wieder! Kein Zweifel. Immer wenn Solomon die Antenne nach Nordosten ausrichtet, ist es ganz deutlich zu hören. Er springt zurück in den Wagen und fährt in die Richtung, aus der er den Ton ortet.
Solomon Epodo ist Wildhüter und Löwenforscher im Mugie-Schutzgebiet, knapp 300 Kilometer nördlich der kenianischen Hauptstadt Nairobi. Er sucht Leda, eine ausgewachsene Löwin. Sie trägt ein Halsband mit Peilsender, das ihr die Wildhüter des Reservats vor etwa einem Jahr angelegt haben. Der Peilsender verrät, wo Leda steckt. Je tiefer Epodo den Geländewagen in den Busch lenkt, desto lauter piepst das Gerät. Mit zusammengekniffenen Augen sucht er im Gegenlicht der untergehenden Sonne die umliegenden Akazienbüsche ab.
«Sie muss hier irgendwo sein», flüstert er, hält an und lauscht. Da! Ein leises Knacken verrät das Raubtier. Unter einem Busch räkelt sich Leda, hebt verschlafen den Kopf und gähnt den Forscher an. «Da bist du ja endlich», murmelt der und grinst.

Leda ruht sich tagsüber im Schatten der Büsche aus, bevor sie mit einbrechender Dunkelheit auf die Jagd gehen wird. «Ihr Halsband», erklärt Epodo, «gibt dauernd ein Funksignal ab, das ich mit meiner Antenne orten kann.» An der Frequenz, die das Ortungsgerät anzeigt, sieht er, welche Katze er gerade aufgespürt hat. Leda ist acht Jahre alt und eine von vier Löwinnen, die im Schutzgebiet einen Sender tragen. Insgesamt 20 Löwen gibt es dort. Sie alle gehören zu einem groß angelegten kenianischen Forschungsprojekt, das sich das Predator(Raubtier)-Projekt nennt. Darin erforschen Wissenschaftler das Verhalten der Löwen, ihr Gruppenleben, ihre nächtlichen Jagdrouten und bevorzugten Beutetiere. «Wir brauchen solche Informationen, wenn wir die Tiere schützen wollen», erklärt Solomon Epodo. Denn Löwen sind in vielen Regionen Kenias und Ostafrikas inzwischen fast vom Aussterben bedroht. Warum das so ist? «Weil Menschen den großen Katzen immer mehr Lebensraum wegnehmen», sagt er. «Wo in den Savannen früher Wild äste, weidet heute das Vieh der Bauern. Außerhalb der Schutzgebiete werden Löwen von den Hirten erschossen oder vergiftet, weil sie ein Rind gerissen oder – im eher seltenen Fall – einen Menschen angegriffen haben.» Zudem stellen in Afrika immer noch Trophäenjäger dem König der Tiere nach. «Vieles deutet inzwischen darauf hin, dass Löwen bald nur noch in eng eingezäunten Schutzreservaten überleben», sagt Epodo.

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Fotos: © Durch die Bildergalerie von Kirsten Milhahn geht's per Klick auf die Klammern

Dabei sind sie die Statussymbole der Savannen. Von Kenia bis Südafrika schmücken sich viele Länder mit ihren Natur­schätzen. Touristen aus aller Welt strömen in den afrikanischen Busch, um die «Big Five» zu bestaunen: Elefant, Nashorn, Leopard, Büffel – und vor allem den Löwen. Viele afrikanische Länder hängen am Tropf des Tourismus, und Löwen sind eine Ein­nahmequelle, die sie wirtschaftlich dringend benötigen. Umso paradoxer, dass es um die Großkatze heute schlimmer steht als je zuvor. Kenia allein verliert jedes Jahr durchschnittlich 100 seiner derzeit noch 2000 Löwen, sagt der Kenya Wildlife Service, eine Art Naturschutzbehörde.
Weltweit betrachtet sehen die Zahlen noch dramatischer aus. In Westafrika gibt es nur noch etwa 500 Löwen, auf dem gesamten Kontinent sind es noch höchstens 23.000 bis 35.000, schätzt der WWF. Seit 1960 habe sich die Zahl der afrikanischen Löwen um zwei Drittel verringert. Längst bangen Naturschützer nicht mehr um die Schicksale einzelner Tiere, sie fürchten um den Erhalt der Art. Das Predator-Projekt soll helfen, das Un­vorstellbare zu verhindern: dass es in Afrikas Savannen keine Löwen mehr gibt.

Philip Songok lehnt sich aus dem Fenster seines Geländewagens und blickt angestrengt durchs Fernglas. Es scheint, als habe er im Busch etwas entdeckt. Aus dem weißen Metallkasten, der neben ihm auf dem Beifahrersitz liegt, tönt leises Rauschen. Auf die Motorhaube seines Autos ist eine lange Antenne geheftet.
Er legt das Fernglas neben sich auf den Sitz und lenkt den Wagen von der staubigen Sandpiste in den Busch. Songok gehört zur Ecological Monitoring Unit, dem ökologischen Wildtier-Über­wachungs­team von Ol Pejeta, einem privaten Schutzgebiet vier Autostunden südlich von Mugie, mitten im großen Ost­afrikanischen Grabenbruch. Wie Solomon Epodo sammelt Philip Songok Daten für das Predator-Projekt.
Er stoppt den Wagen. Keine 100 Meter vor dem Auto steht eine Handvoll Giraffen. Wie Salzsäulen stehen sie da und starren in die Büsche vor ihnen. Giraffen sind aufmerksame Beobachter. Sie kriegen sofort mit, wenn in ihrer Nähe Gefahr lauert.
«Und für uns sind sie ein sicheres Indiz», sagt der Wildhüter. «Die Löwen sind hier irgendwo in den Büschen.» Weil die Sonne an diesem Morgen schon heiß vom Himmel brennt, haben sie sich in den Schatten verzogen. Er lenkt den Wagen in Richtung des Gebüschs, auf das die Giraffen gaffen. Und tatsächlich beginnt es aus dem weißen Metallkasten leise zu piepsen. Ping, ping macht es, als würden Wassertropfen auf eine Glasplatte fallen.

Der Wildhüter hat die «Royal Boys» gefunden, seine «Königsjungen», wie er das zweifellos ungewöhnlichste Löwenrudel von ganz Kenia nennt. Neun stattliche Löwenmännchen und zwei Weibchen, eines davon mit einem Sender um den Hals, liegen einträchtig im hohen Gras und dösen im Schatten vor sich hin. «Löwen leben in Rudeln, die aus einer Gruppe Weibchen und oft zwei bis drei Männchen bestehen», erklärt Songok. «Bei den ‹Royals› ist das anders. Sie sind alle Geschwister, gehen gemeinsam auf die Jagd.» Und auch sonst ließe sich keine klassische Rangordnung zwischen den Geschlechtern feststellen. Warum das so ist? «Das wissen wir noch nicht genau», sagt er, «aber wir versuchen es herauszufinden.» Ol Pejeta ist mit 360 Quadratkilometer ein eher kleines Schutzgebiet, hat mit 72 Löwen in sechs Rudeln aber eine so hohe Bestandsdichte wie sonst nirgendwo in Kenia. Vielleicht hält das die «Royals» davon ab, sich zu trennen und eigene Wege zu gehen.
Inzwischen beteiligen sich neben Ol Pejeta und Mugie 30 private Schutzgebiete am Predator-Projekt. «Wenn wir nur ein paar Tiere mit Sendern ausstatten, wissen wir, was der Rest des Rudels macht und wo es gern jagt», sagt Songok. Wagt sich ein Rudel zu nahe an eine Siedlung, können die Ranger eingreifen, um Mensch und Tier vor einer Konfrontation zu schützen.

Solomon Epodo und Philip Songok fahren dafür täglich in den Busch und studieren die Gewohnheiten ihrer Schützlinge. «Ich kenne ihre nächtlichen Jagdrouten inzwischen sehr genau und kann die Bauern in den umliegenden Gemeinden warnen, wenn Löwen in ihrer Gegend sind. Aber die Leute müssen natürlich mitziehen.» Die Menschen sollen wieder lernen zu akzeptieren, dass Raubkatzen in ihrer Nähe leben. In Mugie und Ol Pejeta klappt das schon ziemlich gut. Viele Hirten, die in der Nachbarschaft der Schutzgebiete siedeln, zäunen nachts ihr Vieh besser ein, sodass Löwen nicht wildern können. Oder sie stellen Wachmänner auf.
Die sollen Raubkatzen nachts mit Taschenlampen oder Scheinwerfern vertreiben. Klingt wenig glaubwürdig, funktioniert aber. Löwen mögen es nicht, wenn man sie mit grellem Licht blendet.
Doch trotz des Engagements der Naturschützer gibt es immer wieder Rückschläge. «Verlässt ein Löwe ein Schutzgebiet, ist er vielerorts Freiwild», sagt Solomon Epodo. Kenias Schutzgebiete und Nationalparks sind zwar meist eingezäunt, aber es gibt Korridore, durch die Tiere wandern können, etwa Elefanten. Das nutzen auch Löwen.

Mohawk, das staatliche Löwenmännchen aus dem Nairobi-Nationalpark, wäre heute vermutlich noch am Leben, hätte er einen Peilsender getragen. Die Wildhüter hätten damit im vergangenen Jahr sicherlich verhindern können, dass er aus dem Park ausbrach. Außerhalb des Schutzgebietes wurde Mohawk von einer aufgebrachten Menschenmenge bedrängt, geriet in Panik und wurde schließlich von einem Ranger erschossen.
Trotz solcher Niederlagen ist Solomon Epodo davon überzeugt, dass Löwen in seinem Land eine Zukunft haben. Am nächsten Morgen ist er wie immer bei Sonnenaufgang im Busch von Mugie auf der Suche nach seinen Raubkatzen. Das Signal aus dem Ortungsgerät kommt diesmal von einer anderen Frequenz: «Nina», flüstert Solomon. Seine Augen leuchten. Er strahlt über das ganze Gesicht. «Wir vermissen sie seit zwei Monaten.» Und dann tauchen über dem Elefantengras am Horizont zwei Löwenköpfe auf. Nina, die wie Leda einen Sender trägt, und Chongo. Die zwei Löwinnen sind unzertrennlich und ziehen ihre Jungen gemeinsam auf. Solomon lenkt den Geländewagen langsam in ihre Richtung. Und dann zieht plötzlich eine ganze Löwenfamilie an ihm vorbei: Nina und Chongo, acht kleine Löwenkinder – und Pollux, der stolze Vater.