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Dolf Verroen

Krieg und Freundschaft

Nr 209 | Mai 2017

gelesen von Simone Lambert

In den 42 kurzen Kapiteln dieses großartigen Kinderromans erzählt Dolf Verroen von einer Freundschaft während des Zweiten Weltkriegs, als die Besetzung der Niederlande durch die Deutschen die Niederländer in Widerständische und Kollaborateure teilte.
Joop, der Ich-Erzähler, findet in Kees, einem Außenseiter wie er selbst, einen Freund. Kees hat viel zu erzählen, redet aber nicht über sich. Sie werden Blutsbrüder: «Kees war froh mit mir. Und ich mit ihm.» Joop und Kees merken früh, dass sie sich besser außerhalb der Elternhäuser treffen, denn Joops Eltern unterstützen den Widerstand und verstecken Untergetauchte, die Eltern von Kees dagegen sind Mitglieder beim NSB, der
Nationaal-Socialistische Beweging.
Der Krieg prägt ihre gemeinsamen Erlebnisse. Kees spürt, wenn der Freund Unterstützung braucht; als Joop im Luftschutzkeller während des Bombenangriffs Angst hat, hält er wortlos seine Hand. Der Wechsel auf die höhere Schule trennt die zwei. Eines Tages trifft Joop in Begleitung seiner Mutter in der Stadt auf Kees, der für den NSB sammelt. Beide geben vor, einander nicht zu sehen. «Ich wollte schreien, mich losreißen. Ich tat nichts.»
Dieses Buch erzählt nicht von absoluten Helden, Böse­wichten oder Opfern, sondern von Widersprüchen und Ambivalenzen, ebenso von jugendlicher Ungeformtheit: Dem Nachbarsjungen Jaap, einem aufdringlichen Schlaumeier, wird seine Neugier zum Verhängnis. Rinus ist ein Nazi, dabei hochintelligent und Klassenbester. Die befreiten Niederländer rächen sich grausam an Kollaborateuren und Mädchen, die sich auf Deutsche eingelassen haben. Wann immer sich ein Klischee anbietet, lässt Dolf Verroen es «vorbeilaufen». Er nähert sich der Erfahrung von Verdunkelung und Fliegeralarm, Lebens­mittelknappheit, Schikanen, verfolgten jüdischen Nachbarn und Deportationen mittels einer minimalistischen (und humorvollen) Erzählweise, die Kinder den Ernst des Krieges erfassen lässt.
Joop beurteilt Menschen nicht nach ihrem Schicksal oder ihrer Rolle im Krieg, sondern nach ihrer sozialen Verträglichkeit. Das scheint zunächst kindlich-naiv, wird aber zum Charakterzug. Joop wächst in einer Familie heran, die solidarisch und menschlich denkt und handelt, ganz gleich, ob es sich um Untergetauchte, Verfolgte oder Deutsche handelt. Den Umgang mit Kees jedoch verbieten sie ihm – aus guten Gründen. Und Kees verschwindet aus der Erzählung. Etwa 20 Seiten lang wird sein Name nicht erwähnt, dann heißt es: «Ich schlenderte weiter, bis ich an der Ecke war, wo sein Haus stand.» Gerade weil er seinen Namen auch jetzt nicht nennt, wird klar, dass Joop seinen Freund nicht vergessen hat und wie nah er ihm noch immer ist. Ein Passant erklärt Joop rachedurstig, dass die Familie ins Gefängnis gesteckt wurde. Joop hat Alpträume und Schuldgefühle. Und schließlich bekennt er dem abwesenden Kees seine Freundschaft.
Rolf Erdorf hat diese kunstvolle Erzählung von Dolf Verroen über eine unmögliche Freundschaft in Zeiten des Krieges hervorragend übersetzt: jedes Wort passt, stimmt und klingt. Freundschaft verzeiht, sie ist bedingungslos. Dieses Erleben bricht mit sozialen und politischen Tabus. Joops bewusste Entscheidung für die Freundschaft, nachdem er Kees schon verloren hat, ist ein Stück eroberte Identität, ein Heranreifen zur Freundschaft – und eine Entscheidung gegen den Krieg.