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Alfons Limbrunner

Hätte ich noch einen Wunsch frei

Nr 209 | Mai 2017

Hätte ich noch einen Wunsch frei und dürfte Persönlichkeiten, die längst tot sind – unabhängig von meinen noch lebenden Freunden, die ich ebenso und gesondert zu Tisch bitten würde –, zu einem Gastmahl einladen, bevor auch ich sterbe, wer würde es sein?
Adalbert Stifter und Karl König, die beiden Österreicher, mit denen mich ohnehin landsmannschaftliche Gefühle verbinden. Vielleicht auch Arno Schmidt und Joseph Beuys? Aber nein, Schmidt lehnt sowieso ab. Und Beuys? Nein, auch ihn nicht, denn die eine Frage, die ich ihm stellen würde, kann ruhig unbeantwortet bleiben …
Bei Stifter klopfe ich zuerst an. Er ist meine Nummer eins. Ich bin sicher, dass er zusagt, nicht nur wegen des Essens, das aber auch, weil er gerne viel und gut gegessen und getrunken hat. Die Speisefolge wird ihm zusagen: Griesnockerlsuppe, gesottene Forellen, Tafelspitz, Faschiertes, Marillenknödel in mit Butter gebräuntem Paniermehl, Paradeisersalat mit hellem Öl und leicht geknobeltem Bohnensalat mit dunklem, steirischem Kürbiskernöl, schließlich süßer Strudel mit Schlagobers. Dazu reichlich bes­ten Grünen Veltliner.
Meine Geschichte mit Stifter geht so: Seit ich vor ewigen Zeiten von einem benachbarten Germanisten zwei Bände einer Klassikerausgabe geschenkt bekam, bin ich sein Verehrer, sein treuer Leser, ungeachtet dessen, was andere an ihm gut oder aber nur fad und langweilig finden. Witiko, jenes monumentale böhmisch-tschechische Epos, trug den Rest dazu bei, dass dieser im heutigen tschechischen Horni Plana geborene, dann in Wien und Linz lebende Dichter zu «meinem Stifter» wurde. Witiko, jenem reinen und lauteren Menschen, den Stifter sagen lässt: «Singen kann ich nicht, aber denken, wie der Wald rauscht.» Die Sammlung all seiner kleineren und größeren Erzählungen, seiner Briefe und aller erreichbaren Biografien nehmen über eineinhalb Meter in meinem Bücherregal ein. Das schönste antiquarische Exemplar des Nachsommers, in dem Hugo von Hofmannsthal das Nachwort verfasste, zieren goldene Muster und Schriftprägungen auf hellbraunem, zart gewobenem Leinenumschlag.
Mein Stifter-Lieblingszitat, das als das «sanfte Gesetz» gilt, steht in seiner Vorrede zu Bunte Steine und geht ungefähr im Kern so: Es ist ein Gesetz, das will, dass jeder Mensch, wie immer er auch sei, zum Kleinod für alle anderen Menschen werden soll; dass er als ewiges Menschenwesen seine Geltung nicht verliere, wie absonderlich er auch in seinem Tun und Verhalten sein möge.
Karl König wäre der Zweite. Auch er würde bestimmt kommen, zumal Stifter mit am Tisch sitzt. Er, der in Wien geborene jüdische Arzt und Anthro­posoph, der nach der Emigration in Schottland jenes weltweite humanistische Projekt Camp­hill gründete, wird zwar vermutlich Vegetarier sein und keinen Alkohol trinken, aber das lässt sich durchaus lösen. Meine Geschichte mit ihm beginnt Ende der Sechzigerjahre. Erstmals hörte ich von seiner Studie über jene Menschen, die heute mit dem Etikett Down-Syndrom oder Trisomie 21 unter uns leben. Dann, sehr viel später, fiel mir im Zusammenhang mit der Einschulung unserer Söhne an der Waldorfschule sein Buch Brüder und Schwestern – Geburtenfolge als Schicksal in die Hände. Anfang der Neunzigerjahre erschien über ihn eine umfangreiche Biografie. Überrascht entdeckte ich, dass auch König ein Verehrer Adalbert Stifters ist. Genau dieser Umstand rückte ihn mir innerlich näher, und ich begann mich ernsthaft mit ihm zu befassen. Und, wie das so ist, weitere Vertiefungen und Kontakte, insbesondere zu R. S., dem Herausgeber der großen Karl König-Werkausgabe, ergaben sich, die bis heute mein Interesse binden und in die Weite führen. Im Übrigen finde ich es für das Verständnis von Mensch und Welt bereichernd, mit einigen Sichtweisen und Hypothesen der Anthroposophie versuchsweise zu leben.
Über den möglichen Verlauf des Gastmahls wage ich nicht zu spekulieren, glaube aber, dass ich bei den beiden sprachmächtigen und redebedürftigen, aus der Zeit gefallenen Herren kaum zum Zug kommen werde.