Brigitte Werner

Von oben

Nr 211 | Juli 2017

Ich konnte ihn nicht leiden. Sein schmuddeliges Unterhemd, seine ungepflegten Haare, seine Zigarette im Mundwinkel und immer eine Flasche Bier in der Hand, und das schon am frühen Morgen. Außerdem stand er immerzu an der einzigen Lücke am Gartenzaun, die den Blick auf meine Terrasse freigab. Ich wohnte in einer winzigen Dachwohnung, zu der ein kleiner Sitzplatz mitten im riesigen Garten unter einem uralten Birnbaum gehörte, der jeden Frühling unermüdlich tapfer versuchte zu blühen. Was ihm gelang, aber es wuchsen stets nur klitzekleine Birnchen, die er dann alle verlor. Jedes Jahr aufs Neue sprach ich meinem Baum gut zu, dankte für die Blüten und war verzweifelt, wenn die winzigen Früchte auf meine Terrasse fielen. Ich sammelte sie alle ein, verwahrte sie eine Weile und begrub sie dann an seinen Wurzeln. Keine Ahnung warum.
Der Typ aus der Nachbarsiedlung stand am Zaun und sah mir dabei zu. «Is’ das Dünger?», fragte er. «Das wird nix, das kannze mir glauben.» Ich tat so, als ob ich ihn nicht hörte. Er gab nicht auf. «Oder hasse ’nen Schatz versteckt?», fragte er – und obwohl ich nicht zu ihm hinsah, ahnte ich ein schmieriges Grinsen. Ich grub weiter. Als ich fertig war und mich umdrehte, rief er: «He, Frollein, kommse doch mal her.» Nie im Leben, dachte ich und schlug mein Buch auf. Ich konnte nicht lesen, ich tat nur so, er machte mich wütend. «Hab ’nen Tipp für Sie», rief er und beugte sich vor. So! Jetzt reicht’s, dachte ich.
Ich stand auf und ging zum Zaun. Ich würde ihm jetzt gründlich die Meinung sagen, und dann sollte er bitte schön verschwinden. Ich stellte mich aufrecht vor ihn hin. Sehr gerade, sehr mächtig, mit einer unsichtbaren Krone auf dem Kopf, das hatte ich mal in einem Seminar gelernt. «Ich bin Klaus», sagt er und reicht mir seine Hand über den Zaun. Ich übersehe sie. «Bin ich so interessant, dass Sie den ganzen Tag hier stehen und rüber­starren?» (Glotzen hätte ich gerne gesagt.)
Meine Stimme klingt schnippisch, sie hört sich irgendwie blöd an. Bin ich gerade blöd? Er grinst. «Kanns’ mich nich leiden, was?» Und ich murmle ein ertapptes Hm, hm. «Du bis’ so ’ne Schreibhexe, hab ich recht?», fragt er. Er hatte recht. Ja, ich schrieb – und ja, ich fühlte mich gerade wie eine Hexe. Eine böse, eine giftige. So wollte ich eigentlich nicht sein. Er grinst immer noch. «Du meins’, du bis’ was Besseres, stimmt’s?» Ja, er hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Er hatte mich voll erwischt.
Ich schaue betroffen auf meine Schuhspitzen. «Hab einfach zu viel Zeit», murmelt er. «Seit Hilde tot is’, weiß ich auch nich mehr …» Er schweigt. «War mal in Indien mit ihr, is’ lange her. Wir war’n so was wie Hippies. Da hat so’n Guru mitten ausser Hand einen Baum wachsen lassen, ich schwör. Seitdem glaub ich an alles. Müssen se auch tun: einfach dran glauben. Is’en guter Kerl, der Alte.» Er zeigt auf den Birnbaum. «Aber er is’ müde. Muss er immer noch Birnen wachsen lassen?»
Ich blicke auf. Er schaut direkt in meine Augen. Ich schüttle den Kopf. Nein, muss er nicht, wird mir gerade klar. Es ist gut, dass er da ist, das reicht. Ich sage ihm das. Ja, nickt er und lächelt. «Er is doch schon alt. Also darf er das.» – «Er darf», bestätige ich. Wir nicken uns zu. «Klaus», sage ich zögerlich, «was machen Sie so den ganzen Tag, wenn Sie mal nicht am Zaun stehn?» Er denkt nach. «Eigentlich nix», sagt er. «Gibt nix mehr Sinn, seit se tot is.» – «Hab ich auch schon mal erlebt», sage ich und schlucke. «Aber du wirst etwas finden, das dir hilft. Bestimmt.» – «Ich schau’ dir einfach zu», sagt er, «wenne schreibst oder liest. Und ich kann sehen, dasses dir gefällt. Und das gefällt mir.» Was soll ich dazu sagen? Ich bin ehrlich. «Mich stört es manchmal», druckse ich herum. «Aber du kannst mal was von mir lesen. Wenn du willst.» Am nächsten Tag schenke ich ihm Kotzmotz.* Er strahlt und verschwindet damit im Haus. Von oben aus seiner Wohnung brüllt er irgendwann: «He, Schreibhexe, hasse gut gemacht!» Sorry, sorry, denke ich. Ja, manchmal bin ich voll blöd. Voll daneben. Tschuldigung, Klaus! «Danke!», schreie ich zurück und denke: Von Indien muss er mir mal mehr erzählen.