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Jochem Myjer

Die Gorgel

Nr 213 | September 2017

gelesen von Simone Lambert

Melle hat einen Gorgel gesehen, seinen Wachgorgel, und das bringt sein Leben gehörig durcheinander. Denn wenn die Gorgel in den Kinderzimmern auftauchen, um die Kinder vor Krankheit und Unheil zu beschützen und ihren guten Schlaf zu sichern, dann ist Gefahr in Verzug. Gefahr in Gestalt der grönländischen Scheußlinge: stinkende und aggressive Wesen, deren Hauch Kindern Krankheiten bescheren kann. Der drahtige Bobba, Melles Wachgorgel, will seinen Schützling mit Muskelkraft und Stockschlägen dagegen verteidigen. Und doch passiert es, dass ein Scheußling nachts in Melles Zimmer eindringt und den kleinen Bobba im Kampf lebensgefährlich verletzt. Melle muss handeln, wenn er seinen neuen Freund retten will. Dessen Völkchen lebt auf der Insel, auf der auch Melles Großeltern wohnen. Melles Vater, ein Museumsbiologe mit geheimen Forschungsfeldern, überrascht Melle und Bobba und erkennt die Not. Sie fahren auf die Insel, und dann ist es Melle, der die Rettung der Gorgel und damit aller Kinder in die Hand nimmt. Unterstützt durch das Vertrauen seines Vaters und das Wissen seines Großvaters nimmt Melle an der Seite des weisen Anführers der Gorgel den trickreichen Kampf gegen die invasierenden Scheußlinge auf …
Melle ist ein Junge mit Naturinteresse und Forschergeist. Er hat «Superaugen», wie sein Vater sagt. Blitzschnell kann er beispielsweise bei einer Vogelschar die Anzahl der Vögel zählen und Details benennen, die andere nicht wahrnehmen. Melle setzt seine Intelligenz mitfühlend und fantasievoll ein. Damit gleicht er seinem Großvater als Kind. Ihre Kenntnisse der Natur und der Tiere teilen Vater, Sohn und Enkel. Aber noch mehr ist das geteilte Wissen um und der Glaube an Wesen wie Gorgel und Scheußlinge eine bindende Kraft zwischen den Generationen.
Das alte Märchenmotiv von den Wichteln oder Schutzwesenheiten wird hier aufgenommen und nimmt die Gestalt der Gorgel an. Myjer hat die fantastische Ebene in die Realität integriert und durch die seltene Gabe der Superaugen erklärt. Melle hat die Fähigkeit von seinem Großvater «geerbt», der seine Superaugen mittlerweile eingebüßt hat.
Klar in der Gegenwart angesiedelt, erzählt diese spritzige, herzerwärmende Abenteuergeschichte zugleich von etwas Überzeitlichem, etwas, dass sich von Generation zu Generation wiederholt. Die enge Verbundenheit zwischen Vater, Sohn und Enkel betont diesen Aspekt noch. Die zahlreichen, oft ganz­seitigen Illustrationen unterstreichen den Charme und die Liebenswürdigkeit dieser originellen Geschichte. Die farbenfrohen und schwungvollen Aquarelle von Rick de Haas zeigen das Geschehen aus dramatischen Blickwinkeln, sodass der Leser zum mitfiebernden Beobachter wird.
Dass die männliche Tradition sich selbst augenzwinkernd in Frage stellt, wenn am Schluss Melle seiner verschreckten kleinen Schwester Superaugen bestätigen kann, ist ein zusätzliches zauberhaftes Moment: Die kleine Limoni hat ihren Wachgorgel gesehen, und ihr Bruder weiht sie ein…
Ein Buch, das das Zeug zum modernen Kinderbuchklassiker hat und Mädchen wie Jungen begeistern wird.


PS: Auf dem Foto ist der Autor Jochem Myjer freudig mit seiner deutschen Ausgabe zu sehen! Mehr von und über ihn kann man hier lesen!