Jeanne Benameur im Gespräch mit Evelies Schmidt

Schreiben, um zu verstehen

Nr 214 | Oktober 2017

Intensität, Innerlichkeit, Selbsterforschung und Empathie gehören zu den besonderen Qualitäten der Schriftstellerin Jeanne Benameur. Französische Leserinnen und Leser schätzen ihre Romane seit vielen Jahren. Mit ihrem Roman «Das Gesicht der neuen Tage» kann sie jetzt auch in deutscher Sprache entdeckt werden. Warum engagiert sich die in Algerien geborene, in Frankreich lebende Schriftstellerin im Schreiben so sehr für den Weg zu innerer Freiheit und Humanität? An einem sonnigen Tag ergab sich in Paris die Gelegenheit, sie kennenzulernen.

Evelies Schmidt | Liebe Jeanne Benameur, ich möchte mit drei Sätzen aus einem Ihrer Romane beginnen: «Es ist der Moment der zögernden Schritte. Der einzig wahren. Jener, die ein Mensch auf einen anderen zu macht.» In dem Roman geht es um eine Mutter, die ihren erwachsenen Sohn nach Langem wiedersieht. In welchem Sinne ist der zögernde Schritt in einer so engen familiären Beziehung der «einzig wahre»?
Jeanne Benameur | Ich denke, bei Mutter und Sohn, Mutter und Kind, ist der Schritt anfänglich nicht zögernd. Er ist in natür­licher Weise direkt und man geht einfach los. Wenn das Kind größer wird und man ein komplexes menschliches Wesen vor sich hat, das seinen Raum einnimmt, ist es nicht mehr nur unser Kind, es ist ein anderes menschliches Wesen. Ein Anderssein greift Platz. Es ist nicht mehr wie am Anfang, wo man das Kind noch mit umschließt. Jetzt hat man jemanden gegenüber, und man muss auf diese Person zugehen. Alles kann in der Schwebe, kann zögernd sein, weil es da diesen Anderen gibt, auch wenn er unser Kind ist. Und das ist in Das Gesicht der neuen Tage der Fall. Dieser Mann, der so viel Schreckliches durchgemacht hat … Seine Mutter wird sich des tiefgreifenden Andersseins dieses Mannes bewusst, der ihr Kind ist.

ES | Wäre das denn auch prinzipiell die wahre Art, sich jemandem zu nähern?
JB | Nein. Das kommt darauf an. Wenn man zum Beispiel verliebt ist, geht man nicht zögernd auf den anderen zu. Man geht spontan. Es ist ein bisschen so, wie wenn man Kind ist, wenn man verliebt ist. Es gibt Momente in unserem Leben, in denen wir den direkten Schritt der Kindheit haben, das heißt, wenn wir uns das nicht erst bewusst machen. Und dann gibt es noch die Momente, wo man dem anderen ins Gesicht sieht, da ist der Schritt, den man auf jemanden zu macht, sehr bewusst. Daher das Zögern, da ist im Grunde das Bewusstsein am Werk.

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ES | Wenn Sie schreiben, wo nimmt das seinen Anfang? Was muss gegeben sein?
JB | Mehreres ist dafür nötig. Es braucht eine Frage. Eine Frage von solcher Nachdrücklichkeit, dass ich mich schreibend auf den Weg machen muss, um in ihr voranzukommen. Es gibt im Leben Fragen, mit denen man vorankommen kann, ohne einen Text schaffen zu müssen. Und dann manchmal, bei den großen Fragen des Lebens, ist letztlich das Schreiben meine Art, wie ich zu verstehen versuche. Damit ich die Frage in all ihren Facetten in der Vorstellung bis zu Ende verfolgen kann. Denn in meinem eigenen Leben bin ich zwangsläufig auf das beschränkt, was ich lebe. Ich kann nicht tausend Leben leben. Ich lebe nur eines. Durch die Imagination aber kann ich einer Facette von mir Gestalt geben, die in meinem Leben nicht so weit reicht. Dort, im Text, kann ich weit, sehr weit gehen. Ich kann mir vorstellen, wie es sich anfühlt. Und das erlaubt mir, mich selbst besser zu erforschen, tiefer in mein Inneres vorzudringen. Indem ich all den Facetten, die ein mensch­liches Wesen ausmachen, die Chance gebe, Ausdruck zu finden, kann ich sehen, wohin mich das führt. Das ist ein Abenteuer. Jedes Mal ist es ein Abenteuer. Albert Camus hat gesagt: «Man schreibt, um verstanden zu werden.» Ich bin mir darüber im Klaren, dass ich schreibe, um zu verstehen.

ES | Sie helfen aber auch anderen, zu verstehen.
JB | Weil ich denke, dass es genügt, wenn ein Mensch frei ist, damit auch alle anderen es sind. Ich glaube, dass wenn ein Mensch sein ganzes Wesen in Bewegung bringt – wie ich es tun kann, wenn ich schreibe, und das ist wirklich ein Aufbrechen mit meinem ganzen Sein und Wesen –, dann kann es auch anderen etwas bringen, die ein anderes Leben führen. Die Leute haben Familie, sie haben Kinder, sie haben ihren Beruf und können nicht einfach so innehalten und nachdenken und jeder Facette so viel Zeit widmen. Ich habe mich entschieden, in meinem Leben genau das zu tun und dem im Schreiben eine Form zu geben. Und wenn sich das mitteilt, wenn das anderen Leuten helfen kann, ist es gut. Bei einer meiner Lesungen sagte einmal eine Dame zu mir: «Sie sind meine Autorin in der Not.» Und ich selbst zehre auch von der Arbeit anderer – von Texten, Bildern, Musikstücken, die mir etwas geben.

ES | Sie haben von Fragestellung gesprochen. Als ich Ihren Roman Profanes las, fiel mir das Wort «Labor» ein.
JB | (lacht)
ES | Denn für Octave (die Hauptfigur), der vier Personen in seinem Haus um sich versammelt, ist das eine Art Experiment, ein Labor.
JB | Es ist ein Abenteuer. Er setzt ein Abenteuer, eine Forschung in seinem eigenen Leben in Gang. Ja, ich verstehe, was Sie meinen, wenn Sie «Labor» sagen … Ich habe vorhin vergessen etwas zu erwähnen: Wenn ich mit dem Schreiben anfange, brauche ich eine Fragestellung, doch das allein genügt nicht. Ich muss auch eine Emotion gefühlt haben. Und diese Emotion muss stark genug sein. Und sie muss anhalten – nichts darf sie vergehen lassen. Manchmal hat man ja Emotionen, und wenn man dann mit einer Freundin spricht oder eine Musik hört oder spazieren geht, hat plötzlich unsere Emotion eine Form gefunden und verklingt. Bei mir gibt es Emotionen, die da sind und denen nichts eine Form gibt – sie bleiben, und zwar in sehr starkem Maß. Nichts ist hinreichend, um ihnen eine Form zu geben. Im Allge­meinen steht eine Frage dahinter, und beides zusammen setzt mich in Gang. Die tiefe Emotion und die Frage. Und so kommt es, dass ich Wochen, Monate, Jahre meines Lebens mit dem Schreiben verbringe.

ES | Ich suche gerade in Ihrem Roman nach einer Passage – ah, da ist sie: «Das Leben des einen erhellt das Leben des anderen.»
JB | Oh ja, das denke ich wahrhaftig. Darin besteht der menschliche Zusammenhang.

ES | Auch in der Literatur …
JB | Sicher, das versucht man zumindest. Aber eben auch im Leben. Es gibt Menschen, die nicht viel Aufhebens von sich machen, und doch kann man bemerken, dass ihr Dasein in der Welt uns Licht gibt. Das finde ich sehr wertvoll.

ES | Und das gibt auch Mut.
JB | Ja, das gibt Mut! Ich finde es großartig: Als Kind habe ich viel Mut aus den Texten geschöpft, die ich las. Was für ein Glück, dass ich durch die Schule die Literatur kennen­gelernt habe. Mein Leben wäre nicht so verlaufen, wenn es das nicht gegeben hätte. Früh habe ich verstanden, dass es nicht darauf ankommt, ob der Autor noch lebt. Im Text ist jemand anwesend. Der Autor ist da, er ist im Text. Ich habe mich niemals allein gefühlt, wenn ich ein gutes Buch bei mir hatte. Man ist nie allein. Man wird vom Autor begleitet.

ES | Es gibt in Ihren Büchern eindrucksvolle Sätze über die Wörter: «Sie hat immer gedacht, dass die Wörter eine Macht enthielten, die man nicht wirklich kennenlernen wollte. Die Wörter können alles wandeln.» Ist etwas Gefährliches daran, wenn Sie schreiben?
JB | Zwangsläufig setzt man sich einer Gefahr aus, wenn man schreibt, denn man sucht ja nach etwas. Und wenn man sucht, weiß man nicht, was man finden wird. Man begibt sich also in ein Abenteuer, in das Unbekannte. Und das Unbekannte kann ein Risiko be­deuten. Ja, es ist ein Risiko, das ich bewusst auf mich nehme. Aus diesem Grund gebe ich sehr gut Acht auf mein Alltagsleben. Mein Leben ist sicher umsäumt von allem, was ich brauche: Natur, die Zuneigung meiner Freunde und meiner Familie. Denn in manchen Momenten wird das Schreiben schwierig. Wenn man an den Verlust rührt, an den Tod, an die Leere, an den Wahnsinn – das sind für den Menschen schwierige Dinge. Und wenn man nun schreibt und akzeptiert, darauf zuzugehen, muss man dafür bereit sein, wenn eine Person dem Tod, dem Wahnsinn oder einer furchtbaren Einsamkeit nahekommt. Dann muss man mit der Person bis dorthin gehen – muss in der Person leben. Es wird oft gesagt, dass die Personen in einem leben. Aber mir ist bewusst, dass ich in meinen Personen lebe. Ich akzeptiere also, in ihren Körper einzutreten und zu fühlen, mir vorzustellen, was sie fühlen. Ja, das kann gefahrvoll sein. Und deshalb muss man sich schützen.
Für mich ist die Psychoanalyse ein sehr starker menschlicher Weg gewesen, der dazu geführt hat, dass ich keine Angst mehr habe. Damit will ich sagen: Auch wenn ich ein Bewusstsein davon habe, was gefährlich ist, habe ich mich doch von vielen Ängsten befreit, die mich anfänglich daran hinderten, mich auf zu schwierige Gebiete vorzuwagen. Durch die psychoanalytische Arbeit wird einem klar, dass alles menschlich ist. Alles. Von dem Augenblick an, wo man das mit seinem ganzen Wesen verstanden hat, kann man losgehen. Nur muss man auf sein eigenes Leben achtgeben, es schützen und nähren, weil es wertvoll ist. Ich finde, dass der Weg der Analyse wirklich interessant ist. Das hat mir wahrhaftig viel Freiheit gegeben.

ES | War das am Anfang Ihrer Existenz als Schriftstellerin?
JB | Ich war 29. Ich schrieb bereits. Ich schreibe seit meiner Kindheit. Aber damals bewegte ich mich anders in die Texte hinein. Ja, die psychoanalytische Arbeit hat mir Türen geöffnet und mich verstehen lassen, was alles zum Menschsein gehört und dass man sich dahin vorwagen kann. Mit Achtung vor dem, was das menschliche Leben ist.