Albert Vinzens

Gemeinsam lesen ist mehr

Nr 214 | Oktober 2017

«Shared Reading» ist eine literarische Bewegung, die im Kleinen in Großbritannien begann und inzwischen als soziale Bewegung von unten bezeichnet wird. Man braucht nur ein Buch, einen Raum und Zeit für regelmäßige Treffen. Es wird reihum laut gelesen und über den Inhalt gesprochen. So haben früher Gemeinschaften die Zeit miteinander verbracht. Heute sind Zusammenkünfte von solch archaischer Einfachheit ungewöhnlich und revolutionär. In Großbritannien allerdings nicht mehr; dort gibt es Tausende solcher Lesekreise – und nun hält die Kultur des Shared Reading auch in Deutschland Einzug. Was mich betrifft, so musste ich einige Hürden überwinden, bis ich bereit war, mein tief verinnerlichtes Prinzip des Selbstlesens und Selbstdenkens zu relativieren und zu verwandeln.
Dazu eine Anmerkung. Ein tödlicher Kletterunfall, in den ich verwickelt war, stellte mein bisheriges Leben in Frage. Ich wandte mich in der Folge von der Welt ab und entschloss mich mit 21 Jahren, Philosophie zu studieren. Ohne diesen Unfall hätte ich das wahrscheinlich nicht getan. Ich suchte einen neuen Sinn und stürzte mich in philosophische Lektüre und ins Nachdenken. Der Titel der ersten Seminar­arbeit lautete Der Dialog in der Krise, es ging um Platon, der vor zweieinhalbtausend Jahren in Athen lebte. Platon führte in seinen Dialogen den alten Sokrates vor, wie dieser die Jünglinge und Handwerker auf den Straßen Athens in Gespräche verwickelte, um mit ihnen Erkenntnisse über die Welt und das Erkennen zu erlangen. Platons Ideal war der dialogische Wissenserwerb.

Inzwischen ist diese Art der Wahrheitsfindung außer Mode geraten. Stattdessen beanspruchen Spezialwissenschaftler bei Erkenntnisfragen ihre fachspezifische Autorität. Diese Tendenz gab es allerdings schon in der Antike. Während sich Platons Dialoge mit der lebenslangen Annäherung an das Gute, Schöne und Wahre beschäftigten, traten im damaligen Athen Fremde auf, die mit bodenlosen Floskeln erklärten, wie ein Mensch seine ganz eigene Wahrheit finde. Diese Fremden nannten sich Sophisten, und ihr herausragendster Vertreter war Protagoras. Er verkaufte den reichen Aristokratensöhnen, also den angehenden athenischen Politikern, Rhetorikkurse und machte sie – je nachdem, wie viel sie zahlten – mit mehr oder weniger viel «Wahrheit» vertraut. Während bei Platon der Prozess des Erkenntniserwerbs ins Unendliche lief, machte sein Gegenspieler Protagoras aus der Wahrheit ein handfestes Spiel um Geld und Macht. – In meiner Arbeit über Platon wurde mir bewusst, dass schon an der Wiege des abendländischen Denkens eine Krise der philosophischen Verständigung da war. Rudolf Steiner entwickelt in seinem Buch Die Rätsel der Philosophie den Gedanken, dass die Sophisten «an einem Wendepunkte angekommen» und «dabei in ein gefährliches Fahrwasser geraten» seien: «In ihnen stellt sich der Geist des Griechentums wie an einen Abgrund.» Steiner nennt diesen heiklen Zustand eine «Aufklärung»; darin besteht eine Chance und auch eine Gefahr. Die Chance wäre eine Aufklärung der Gedanken gewesen, die Gefahr dabei war ihre Verdunkelung. Das erste Zu-sich-Kommen des griechischen Denkens sollte Gedankenklarheit bringen, doch es stellten sich Missverständnisse und Befremden ein.

Eine Mischung davon sehen wir noch heute: Redegewandte Spezialisten amalgamieren die Welt mit Teilwahrheiten und geben diese für das Ganze aus. Das begegnet uns überall, im sorglosen Umgang mit genverändertem Leben, in der alle Lebensbereiche vereinnahmenden Digitalisierung der mensch­lichen Kommunikation, in Medizin, Pharmazie und der Er­nährungswissenschaft genauso wie in Erziehung und Aus­- bildung. Kritik wird unterbunden, sie wäre nur innerhalb der spezial­wissenschaftlichen Fachbereiche überhaupt formulierbar, bleibt dort jedoch aus.
Ich weiß nicht recht, ob sich mir durch die Hinwendung zur Philosophie die Lesbarkeit der Welt erhöht hat, denn auch die philosophischen Fachbereiche sind ins Fahrwasser sophistischer Argumentationen geraten. So ist inzwischen bald jeder überzeugt, dass sein mit sich selbst beschäftigtes Denken ausreiche, um die Rätsel der Welt zu erklären: Es war doch kein anderer als ganz allein ich, der die Idee zu dieser Seminararbeit hatte, ich allein hatte die Sekundärliteratur für das Thema ausgewählt, und die Thesen, die höhere Zusammenhänge erschlossen, kamen doch alle aus meinem Kopf. Ich habe lange geglaubt, so funktioniere exakte Wissenschaft. Doch das ist ein Irrtum – und ich bin inzwischen überzeugt, ihn durch die Auseinandersetzung mit Platon entdeckt und durch die Teilnahme an Shared Reading-Projekten teilweise verwandelt zu haben. Es gibt in diesem meinem Leben neben dem individualistischen Einzeldenkertum, dem ich mich, wie viele meiner Zeitgenossen, im Zweifelsfall schnell ergebe, einen Faktor, der das individualistische Denk- und Erkenntnisvermögen übersteigt. Dieser Faktor ist der Dialog mit anderen Menschen. Seither suche ich menschliche Zusammenhänge, in denen gepflegt wird, was ich «gemeinsam denken» nennen möchte, denn nicht nur die Leseerfahrung, auch die Denkerfahrung erweitert sich im Zusammensein mit anderen.

Ein Gespräch zwischen Menschen, die zusammen ein Märchen oder eine Geschichte gehört haben, trägt oft Erlebnisse, Gefühle, Einsichten in unsere Seele, wie dies die stille Lektüre nur selten zu geben vermag. Gemeinsames Lesen und daran anknüpfende Gespräche verbinden uns mit einem Wissen, das uns aus universellen Weiten berühren kann. So etwas lässt sich nicht digital imitieren, es verlangt den gemeinsamen Austausch vor Ort. Die Bewegung des geteilten Lesens, vor rund zwanzig Jahren in Liverpool entstanden, hat unser Festland erreicht und bringt Freude und Erkenntnisse für immer mehr Menschen. Die Spielregeln dieser Kunst der geselligen Bildung sind einfach. Im Augenblick, wo die Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus ihrem Leben zu erzählen anfangen, geschieht meist der Einbruch in etwas Neues, Beglückendes. Es entsteht Teilhabe am anderen – davon kann unsere dialogferne Welt nicht genug bekommen. Die Anteilnahme selbst scheint mir übrigens umso gründlicher zu gelingen, je vorbehaltloser die Versammelten einander zuhören und je unterschiedlicher die Menschen in der Leserunde sind.