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Michael Stehle

Was wir tun können

Nr 214 | Oktober 2017

«Die Helden meines Romans Die Kinder der Gerechten, an dem mir so viel liegt, tragen keine Schuld an der Internierung und Deportation Tausender Juden in der Zeit des Zweiten Weltkriegs», schreibt Christian Signol im Vorwort zu seinem soeben in Deutschland erschienenen Roman. «Sie ähneln in vielem meinen Großeltern. Nicht äußerlich, sondern in ihrer natürlichen Güte und Vorurteilslosigkeit gegenüber wem auch immer – und in ihrer Weigerung, das Unglück als gegeben hinzunehmen. Mein Frankreich ist das des Widerstands gegen die Barbarei der Nazis und das der selbstlosen Menschlichkeit. Es ist das Frankreich der Demut, der Stille und des Mutes. Auf dieses Frankreich bin ich stolz, und ich fühle mich als wachsamer Hüter der Erinnerung, auch wenn es weder ein Gesetz zum Gedenken noch eines zur Reue gibt.»
Signols Roman wurde in Frankreich beim Salon du livre mit dem Prix Solidarité ausgezeichnet. «Die Kinder der Gerechten ist das Porträt eines Paares, das während des Zweiten Weltkriegs zahlreichen Juden dazu verhalf, in die unbesetzte Zone zu gelangen. Eine lebendige Hommage an die Solidarität und beispielhafte Toleranz vonseiten zahlloser Zivilisten, die Hundert­tausenden Juden das Leben gerettet haben», heißt es in der Begründung der Jury.

Victoria und Virgile, die unweit von Périgueux in der Dordogne leben, werden gefragt, ob sie mit ihrem Boot Flüchtlingen helfen wollen, die besetzte Zone zu verlassen. Da die beiden keinen Grund sehen, verfolgten Menschen die Hilfe zu verweigern, bekommen sie bald einen Auftrag nach dem anderen. Dies bringt sie selbst in Gefahr: Sowohl die deutschen Besatzer als auch die kollaborierenden Nachbarn haben ein Auge auf das so ruhig und unauffällig lebende Paar. Sind es anfangs nur Erwachsene, landen eines Nachts auch zunächst ein zehnjähriges Mädchen und bald darauf ein gleichaltriger Junge in ihrem Boot. Sarah braucht vorübergehend einen Unterschlupf, da ihre Eltern auf der Flucht sind, Élie musste miterleben, wie seine Eltern erschossen wurden.
Victoria und Virgile beschließen, die beiden Kinder bei sich aufzunehmen, und es beginnt eine Zeit der Angst und des Versteckens – aber auch besonderer Glücksmomente. Die Kinder lernen ein völlig neues Leben kennen, und das kinderlose Paar empfängt das Geschenk, sich mit all seiner Liebe um jemanden kümmern zu können.
Signol beschreibt das Staunen der beiden Erwachsenen, als sie mit völlig unbekannten Bräuchen konfrontiert werden, und schildert die Offenheit, mit der sie dem Fremden, dem Unbekannten begegnen.
Als Sarahs Mutter Virgile und Victoria kennenlernt, begreift sie die Selbstlosigkeit der beiden zunächst nicht.

«Warum tun Sie das?», fragte sie.
«Warum tun wir was?» Victoria drehte sich zu Virgile, als wollte sie ihn um Hilfe bitten. «Würden Sie das nicht tun? Es ist keine Freude, Menschen im Leid zu sehen. Wir sind nicht so erzogen worden, wissen Sie? Bei uns waren wir viele zu Hause, aber jeder ist satt geworden.»
«Aber wir gehören nicht zu Ihrer Familie.»
«Das mag ja sein. Ich weiß nur, dass es Leute gibt, die Ihnen Böses wollen, und Sie sehen nicht aus, als hätten Sie selbst irgendjemandem etwas Böses angetan …»


«Christian Signol hat die außerordentliche Gabe, einfache und treffende Worte zu finden, um die Herzen seiner Leser zu er­reichen«, heißt es in Le Figaro über Die Kinder der Gerechten. Und hinzufügen lässt sich: Ein Autor, der weiß, warum dieser Roman jetzt für uns so wichtig ist.