Andreas Laudert

Caraba! Winke des Schicksals

Nr 215 | November 2017

Jeder Mensch muss – zum Beispiel – lesen lernen. Doch alles Wissen und Können bildet sich durch Begegnungen. Begegnungen mit Menschen. Die einem Rat geben, die einen auf ein Talent hinweisen, das man besitzt, das aber bisher niemand wahrgenommen oder gefördert hat. Durch Menschen, die uns herausfordern, provozieren, ins kalte Wasser werfen. Oder die uns einfach – und das ist kein Widerspruch – Wärme und Empathie entgegenbringen, grenzenloses Vertrauen in unsere Fähigkeit zur Selbstbildung, Liebe zu unseren Entwicklungsmöglichkeiten. Jeder Mensch kann im anderen lesen. Jeder kann einem anderen ein Lehrer sein in einer bestimmten Situation oder Lebensphase. Jeder kann in einer bestimmten Beziehung wie ein Kind sein. Es sind unsere Mitmenschen, die in unserem bisherigen Werdegang, zwischen den Zeilen von Fakten und Daten, das Ungelebte erahnen und die erkennen, wo es weitergehen könnte, was noch werden will.
In dem Spielfilm Caraba, der gerade in Berlin gedreht worden ist, spielen solcherart Schlüsselerlebnisse und Bildungs-Begegnungen die Hauptrolle. Erzählt wird in sich verwebenden Episoden die Geschichte von fünf jungen Leuten, die sich auf den Weg machen, frei sich zu bilden und auszuprobieren. Aber sie müssen – oder dürfen – das ohne Schulen tun: Als fiktive
Behauptung ist in Deutschland die Schulpflicht per Gerichtsurteil abgeschafft worden. Nicht die Schule als Lernort und Bildungsoption, nur als staatliche Vorgabe. Der Lernort ist das Leben, sind ein Taxistand, ein Radiosender, ein Park zwischen Plattenbauten, ein Gewächshaus oder ein Museum. Ergänzt durch Anlaufstellen, die «Fach-Fabrik» oder «Keimzelle» heißen und die den Jugendlichen Material, Tutoren und Raum zur Verfügung stellen, finanziert vom Staat, der seine Aufgabe jetzt mehr als Ermöglicher statt als Bevormunder begreift. Raum kann ein überflüssig gewordener Kirchenbau sein, eine alte Brauerei, ein stillgelegtes Gelände.

So weit, so gut – so romantisch und unverantwortlich, mag man nun einwenden. Erfundene Strukturen eben. Ein Traum. Aber wie gerät denn der hyperaktive 17-jährige Max an den klugen Studenten Christoph, der Max klarmacht, dass er in diesem Leben kein großartiger Maler mehr werden wird, sondern sein Talent und Interesse nur anders interpretieren muss? Wie findet der schüchterne Lovis zum Rentner Hermann, dessen Uhr er zu Hermanns Erstaunen plötzlich mit wenigen Griffen repariert? Einerseits durch Zufälle. Andererseits durch Aufmerksamkeit. Dadurch, dass man den Augenblick nicht «überliest» und übersieht. Hermann, der Lovis zu einem befreundeten Uhr­macher schickt, liest in Lovis’ Schicksal.
Synergien entstehen, weil Alt und Jung, Mädchen und Jungen, Reiche und Arme einander bemerken und wahrnehmen (zum Beispiel, wenn einer etwas fragen will, sich aber nicht traut). Doch am Buch des Schicksals schreiben auch «die da oben» mit, und damit sind nicht Politiker gemeint. Sondern Menschen, die auch dann noch mit uns verbunden bleiben, wenn sie verstorben sind, oder Menschen, die uns in unseren Gedanken begegnen – als Gedanken. Als Engel. Sie führen nicht den Stift, wenn wir uns einer Sache verschreiben, aber sie stellen unbeschriebene Blätter zur Verfügung. Sie verteilen keine Noten, aber spüren unsere Nöte. Wir sind ihnen auch ohne Leistungsnachweis viel wert – und eben deshalb prüfen sie uns. Vor allem stiften sie Verbin­dungen – wir müssen sie nur deuten. Dabei geht es nicht um das Vitamin B, um Netzwerke, die man pflegt. Manchmal scheint es ja, als könne man seine Karriere nach einem Muster planen; Ratgeber für «erfolgreiches Kommunizieren» werfen überall ihr Konfetti nach uns.
Es geht um eine andere Art von Kommunizieren und von «Sehen und Gesehenwerden». Bei Drehbüchern und szenischem Schreiben ist es entscheidend, dass man im Bild vor sich sieht, was man liest, und dass man sich vorstellen kann, was am Schreibtisch erdacht wurde. Ob Figuren lebendig werden. Schreiben heißt, ein Zeitgenosse der Zukunft zu sein – etwas zu verursachen, von dessen Wirkung man ausgeht. Schreiben heißt vertrauen, dass Worte ein Schicksal haben, dass, wenn es sein soll, der Leser auch das Ungesagte versteht. Und leben heißt vertrauen, dass sich ein (Berufs-)Weg schon bilden wird, weil geistige Wesen mir helfen. Wo stecken sie? In uns selbst. Sie wirken im Gespräch, im Sozialen. Der 12-jährige Lovis lernt schreiben, weil Soljanka Liebesbriefe von ihm bekommen will. Die 15-jährige Janne nimmt ihr Leben in die Hand, weil es ihr aus den Fingern rinnt. (Dabei erzählt Caraba nicht belehrend von einer rosaroten Welt ohne Scheitern. Aber keiner der fünf erleidet völligen Schiffbruch durch die Abschaffung der Schulpflicht.)

Das Buchcover unseres Daseins braucht keinen akademischen Titel, denn jeder Mensch ist eine Gattung, ein Genre für sich. Maya sind unsere Meriten, diese Waschzettel und Klappentexte des Lebens, durch die wir als Ausgewiesene und als Auslese gelten: Rahmen für täuschende Selbst-Bilder, die weniger die Individualität als die Strategie erahnen lassen, womit Können erworben wurde und nun gekonnt wieder verkauft wird.
Der französische Autor Michel Houellebecq sagte einmal, es seien die anderen, die entscheiden, ob man ein Künstler ist. Erfolg sei Schicksal, auch der Erfolg oder Misserfolg bestimmter Bücher. Und der «Erfolg» einer Biografie? Die Peripherien des Lebens werden in Zukunft zum Zentrum. Die Nebensachen sind Ur-Sachen. Unsere Begegnungen werden uns liebevoll schulen. Sie werden uns umso effektiver das lehren, dessen wir gerade jetzt bedürfen, je weniger sie «wie aus dem Lehrbuch» sind. Um die Winke des Schicksals zu dechiffrieren, bedarf es der Kunst zu verdichten, was einem geschieht. Denn bevor wir geboren und veröffentlicht sind, haben Götter bereits in uns gelesen.

JANNE Ich habe eben erfahren, dass ich nicht die Tochter meiner Mutter bin.
Was wäre das für ein Schulfach?
BERATER Oh. – Vielleicht Biologie?
JANNE Ich dachte, das gerade nicht. Ich dachte eher an sowas wie Ethik.
Ich wurde ja sozusagen belogen.
BERATER Ethik ist alles.
JANNE Na toll.
BERATER 2 (zum Kollegen) Vielleicht Geschichte?
Sie muss ja jetzt praktisch ihre Geschichte umschreiben.
(Der 9-jährige Nuri betritt die Fach-Fabrik.)
NURI (lässig) Hat hier jemand ein Taxi bestellt?
JANNE (spontan) Ich.