Patricia Kopatchinskaja im Gespräch mit Doris Kleinau-Metzler

Musik, nicht Perfektion

Nr 216 | Dezember 2017

Musik, diese Sprache ohne Worte, bewegt uns auf ganz eigene Weise. Auch wenn die Palette dessen, was anspricht, unterschiedlich ist und von Klassik bis Rockmusik reicht, kennt fast jeder die Faszination von Musik und es zieht viele Menschen zu Live-Auftritten. Die aus Moldawien stammende Geigerin Patricia Kopatchinskaja setzt mit ihrem Spiel auf der Bühne ungewöhnliche Akzente: Für sie ist Musik etwas Lebendiges, das sie durch ihre Violine im Konzert immer wieder zu neuem Leben erweckt – einem Leben, «von dem man nicht weiß, was im nächsten Augenblick passiert, wenn es Kreativität und Flexibilität ermöglicht». Auch klassische Musik ist für Patricia Kopatchinskaja nicht ein Monument, das immer gleich zu spielen ist, denn «durch die Erwartung der Perfektion schaffen wir eine tote Welt». Entsprechend umfasst das Repertoire der engagierten, temperamentvollen Künstlerin verschiedene musikalische Stilrichtungen und ist eines nicht: elitäre Kunst für wenige, sondern gelebte Leidenschaft, die viele begeistert.

Doris Kleinau-Metzler | Liebe Patricia Kopatchinskaja, von Ihnen gibt es viele CD-Aufnahmen. Ihre CD Take Two hat mich besonders fasziniert, mit dieser so unterschiedlichen Musik aus 1000 Jahren, die doch so aktuell wirkt. Dazu gibt es ein Büchlein mit persönlichen Texten und Bildern ? eine ungewöhnliche Gabe für die Zu­hörer. Was ist für Sie der Unterschied zwischen Live-Auftritten und der Arbeit an einer CD?
Patricia Kopatchinskaja | Take Two ist etwas ganz Besonderes, denn sie entstand mit Freunden, und meine Tochter war dabei. Der Unterschied zwischen live und CD ist immens, es sind zwei verschiedene Dinge: Während man im Konzert absolut auf den Moment angewiesen ist, spielt man im Studio eine schwierige Stelle zehn- oder zwanzigmal und schneidet sie so zusammen, wie man sich das ganze Stück derzeit vorstellt. Es kommt aber vor, dass ich mir einige Jahre später das Stück anders vorstelle und meine eigene Musik nicht mehr anhören mag … Die CD-Aufnahme, die die Musik immer verfügbar macht, hat im Gegensatz zum Konzert also ihren Preis – die Musik steht fest, wirkt perfekt. Die Zuhörer in einem Live-Konzert können nicht dieselbe Perfektion in einem Konzert erwarten, jeder Augenblick ist einmalig. Hier kann der Musiker schöpferisch sein, spontan und kann improvisieren. Wenn so ein Auftritt Kreativität und Flexibilität ermöglicht, weiß man nicht, was im nächsten Augenblick passiert. Und wenn Sie Leben auf der Bühne haben wollen, dann müssen Sie auch Fehler erlauben. Ich finde Fehler schön, weil sie persönlich sind: Der eine hat einen Akzent oder stottert, der andere hinkt, der Dritte ist chaotisch, der Vierte … Das gehört zu uns, ist Teil des Charakteristischen.

DKM | Wie erleben Sie Ihre Bühnenauftritte?
PK | Manchmal ist es nicht so angenehm, wie man meint, vor 2000 Menschen zu stehen, auch wenn es dazugehört. Das Lampenfieber hört nie ganz auf, aber es kann zu einem akzeptierten Begleiter werden, mit dem man lebt. Zu dem Sich-selbst-Akzeptieren gehört für mich auch, dankbar zu sein für das, was ist, statt vor allem meine Macken zu suchen. Ich bin jetzt so – und mache etwas daraus! Um meine Angst vor Fehlern auf der Bühne zu bewältigen, hat mir sehr geholfen, mir selbst zuzugestehen, dass ich auch manchmal schwach und nicht perfekt bin. Ich muss mich deshalb nicht mehr vor Versagen fürchten. Dann kann eine Art heiliger Moment entstehen, wo ich aufgebe, mich behaupten zu müssen – man tut dann einfach Dinge, kann sie, weil sie da sind und frei liegen.

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Fotos: © Wolfgang Schmidt | www.wolfgang-schmidt-foto.de | Durch die Bildergalerie geht's per Klick auf die Klammern

DKM | Dazu gehört aber auch eine besondere Fähigkeit, ein Können?
PK | Manche Musiker studieren so lange ein Stück ein, dass sie fast wie ein Monument auf der Bühne stehen und es todsicher beherrschen, aber in dieser Art von Spiel gibt es nicht die Möglichkeit, sich vom Augenblick inspirieren zu lassen. Sicher ist es ein Risiko, man macht sich auch verletzlich, Fehler können auftreten. Aber so kann auch etwas Fantastisches passieren, etwas, das im Gedächtnis, tief in der Seele bleibt – für Musiker und Zuhörer. Das Stück bespielt einen dann letztlich selbst, es ist eine besondere Beziehung zwischen dem Stück, dem Interpreten und den Zuhörern. Und ja, ein Instrument zu lernen ist Arbeit und hat nie ein Ende, stundenlang übe ich, und zwar jeden Tag. Erst durch das Üben kann ich immer wieder über meinen eigenen Schatten springen und dem Stück alles geben. Und erst durch das Üben, das Wiederholen, sind wir wirklich fähig, das Musikwerk zu gestalten, kreativ zu sein und uns zu entwickeln. Man muss das Mechanische so lange üben, bis es wie automatisch ist, damit man dann wirklich «Musikmachen» kann.

DKM | Auch um zur Ruhe zu kommen, um uns zu konzentrieren, brauchen wir immer wieder Übung. Trotzdem ist man durch Gedanken in einem Konzert manchmal ab­gelenkt … Welche Bedeutung haben die Zuhörer für Sie?
PK | Uns Musikern ist oft nicht bewusst, dass die Zuhörer vielleicht nach einem anstrengenden Arbeitstag ins Konzert kommen. Ich finde es wichtig, so zu spielen, dass man die Zuhörer immer wieder ein bisschen kitzelt – wie Kinder, die ja auch nicht lange zuhören können und die man aufmerksam macht, wenn bald etwas Besonderes passiert. Es ist auch ein bisschen wie Pingpong, man wirft sich die Bälle gegenseitig zu: Ich spüre sehr stark, wie die Menschen im Publikum
reagieren. Wenn sie wirklich zuhören, sich öffnen für das, was kommt, dann ist das eine ganz tolle Unterstützung. Ich schaue die Leute nicht an, aber ich spüre sie, sehe vielleicht am Rand ein Lächeln, ein offenes Interesse in einem Gesicht. – Und jeder hört anders. Es hat wenig mit Ratio zu tun, eher mit Emotion und vor allem mit Intuition.
Wir Menschen versuchen oft, die Musik zu verstehen. Aber was gibt es da eigentlich zu verstehen? Natürlich gibt es Strukturen, man kann alles analysieren, bewerten. Trotzdem ist es dann noch nicht die eine Musik, die mich berührt ? die Musik entsteht im Endeffekt in den Köpfen, in der Seele der Menschen, wenn wir uns auf das «Dazwischen» einlassen. Musik hat so viel Raum. Wir müssen uns vertrauen und es zulassen, uns öffnen.

DKM | Manche oft gehörten Stücke aus der klassischen Musik wecken aber auch feste Erwartungen, wie es klingen soll.
PK | Aber klassische Musik ist kein Dogma und nicht etwas Erstarrtes – Gustav Mahler hat gesagt: «Wir müssen das Feuer weitergeben, nicht die Asche!» Leider ist die klassische Musik ein Ort von Konservativen geworden, in dem man sich sicher fühlt, dass es so ist und bleibt wie früher. Durch die Erwartung der Perfektion schaffen wir eine tote Welt. Das entspricht nicht dem Leben, dem Geist der Musik, auch nicht den Komponisten – als Beethoven seine Sinfonien aufführte, gab es Skandale. Bloße Verehrung ist Erstarrung und wird auch gerne benutzt, um mehr CDs zu verkaufen. Doch es gibt keine absolute Richtigkeit oder Schönheit; es geht immer um den Geist des Stückes, den ich für mich neu entschlüsseln muss. Ein Stück, auch eine klassische Komposition, ist für mich wie ein Kind, das man loslassen muss – dann geht es durch die Welt und will eine Seele, die neugierig ist!
Ich liebe auch die Herausforderung der Neuen Musik. Das Schöne bei zeitgenössischer Klassik oder beim Jazz ist, dass die Musiker neugierig sind und improvisieren und nicht diese starke Angst vor Fehlern haben.

DKM | Sie stammen aus Moldawien. Was bedeutet Ihnen das?
PK | Es ist meine Heimat, mein Ursprung. Als ich dreizehn Jahre alt war, sind wir geflüchtet. Alle Kinder lernen schnell die neue Sprache und sind neugierig auf das Neue. Aber es blieb etwas Bitteres zurück, ein Verlust. In Mol­dawien waren wir eng verbunden mit meinen Großeltern und Verwandten. Aufgrund der damaligen politischen Situation konnte ich noch nicht einmal zu ihrer Beerdigung fahren, keinen einzigen Toten aus meiner Familie konnte ich begleiten. Sie schwanken jetzt in meiner Erinnerung zwischen Himmel und Erde, wie auf dem Gemälde von Chagall, und fliegen alle um meine Geige herum …
Ich bin Botschafterin von Terres des Hommes Schweiz für Moldawien. Moldawien ist das ärmste Land in Europa, es herrscht dort eine unglaubliche Verwahrlosung. Viele Kinder wachsen elternlos auf, allein oder bei dubiosen Personen, denn die Eltern sind im Ausland, um etwas Geld zu verdienen. Terres des Hommes unterstützt in Moldawien mehrere Projekte, die versuchen, das Schicksal dieser Kinder zu verbessern, durch Ausbildung von Menschen vor Ort (Lehrern, Psychologen) in Kinderschutzfragen und regelmäßige praktische Unterstützung der Kinder (zum Beispiel ein Mittagessen, eine Betreuung am Nachmittag). Bei einem Besuch dort hatte ich auch meine Geige dabei und habe in einem Hof für ein kleines Mädchen und die Nachbarn gespielt, alle waren barfuß.* Das waren die besten Zuhörer meines Lebens, sie waren so dankbar … In einem Frauenhaus für misshandelte Frauen konnte ich plötzlich Bach spielen, obwohl ich es sonst nicht kann, weil ich dachte, jetzt ist es richtig. Solche Erlebnisse hatte ich mit meiner Geige in Moldawien.


* Auch Patricia Kopatchinskaja tritt meist barfuß auf.