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Birgitta Kicherer

Eine Insel ohne Adresse …

Nr 216 | Dezember 2017

Über Tove Jansson

Jedes Mal, wenn ich mich länger mit einem Text von Tove Jansson beschäftige, sei es ein Roman, eine Erzählung, ein wundervoll gereimtes Bilderbuch oder ein Buch über die Mumintrolle, seufze ich fassungslos: «Wie ist das nur möglich!? Woher nimmt sie das alles – diesen Witz, diese Tiefe, diesen liebevollen Blick auf die Welt und ihre Bewohner, und seien sie noch so kauzig und absonderlich?»
Persönlich kann ich diese Frage nicht mehr an sie richten, aber als ich neulich in dem Büchlein Begegnung mit Tove Jansson von Tordis Örjasaeter blätterte, fand ich doch eine Art Antwort – in dem Kapitel «Tove erzählt»:

«Für mich gibt es nichts Schöneres als im frühesten Frühjahr zur Insel hinauszurudern und festzustellen, dass alles noch genau so ist, wie man es im Herbst zurückgelassen hat. Dann nachts die Tür des Hauses zu schließen, das man selbst gebaut hat, die Petroleumlampe anzuzünden und draußen das Meer zu hören. Und den ganzen langen Sommer dort zu leben.
Man wandert rund um die Insel. Niemand kann kommen, niemand muss abreisen, man ist ganz ruhig. Die Uhren sind schon seit geraumer Zeit stehengeblieben, und es ist lange her, dass man Schuhe anhatte. Die Füße finden den Weg von alleine, sie sind sicher und selbständig, sie sind sensibel geworden wie Hände und spüren erfreut, dass sie über Sand und Moos, Tang und Fels gehen.
Alle Kleidung ist weich und leicht und hat schon seit langem die Farbe verloren, genau wie das Haar – es erinnert an Strandgras und stört kein bisschen. Man ist sein eigener Kamerad, einer, der selten etwas sagt und nie irgendwelche Fragen stellt, ein Mensch, mit dem man leben kann.
Wenn man lange allein gewesen ist, lauscht man auf eine andere Art ... alte erstarrte Gedanken brechen aus, suchen neue Wege, oder schrumpfen und sterben. Die Träume werden einfach, man lächelt, wenn man aufwacht. Die Probleme sind unkompliziert und lassen sich lösen: das Boot vor dem Sturm an Land ziehen, die Lampe anzünden, wenn es Nacht wird, Holz sammeln und hacken, das Wasser ist alle, es regnet rein.
Hinterher steht man auf der Türschwelle, frierend und überwältigt von Glück, und sieht das karge Land und die Felsen im Dämmerlicht liegen. Plötzlich wird die – vergessene – Möglichkeit denkbar, das Leben als Geschenk anzusehen.
Im offenen Kamin lodert das Feuer. Man rollt sich zum Schlafen zusammen, erkennt die Stille wieder und ist sich selbst ein Freund.
Dann ist da noch die Freude daran, große Steine zu schleppen, sachkundig und mit Hilfe von Balancetechnik einen Stamm aus dem Uferwasser heraufzuziehen oder bei kräftigem Südwest das Boot um die Inselspitze zu zerren.
Wenn ich jemandem etwas Gutes wünschen sollte, dann eine Insel ohne Adresse. Vielleicht auch mit Trollen, aber dann mit sehr kleinen Trollen.»