Christian Hillengaß

Das Blaue Land

Nr 231 | März 2019

Am Rand der bayerischen Berge liegt eine der wohl kraft- und lichtvollsten Gegenden der Republik. Für eine Handvoll Künstlerinnen und Künstler, die sich in die Gegend verliebten, öffnete sich hier ein Raum für Impulse, die die Kunst des 20. Jahrhunderts nachhaltig be­ein­flussten. Die lose Gruppierung um den Almanach «Der Blaue Reiter» suchte das Geistige in der Kunst und brachte von hier aus den Expressionismus in Deutschland mit auf den Weg.

Die Reise ins Blaue Land beginnt in einem gelben Haus. Im Lenbachhaus, der städtischen Galerie in der Nähe des Münchener Königsplatzes, hängen Gemälde wie Fenster an den Wänden. Der Blick hindurch fällt in farbleuchtende Landschaften, auf bunte Dorfstraßen, Bauerngärten, Stadel, tiefblaue Berge und weite Moore. In kräftigen, oft groben Formen, manchmal auch gänzlich abstrahiert, erscheinen die Dinge. Heuberge, Wolken und Bäume. Immer wieder tauchen Pferde auf, geformt, als würden keine anderen Leiber besser zu den Schwüngen der Landschaft passen. Eine gelbe Kuh macht einen früh­lings­tollen Luftsprung. Füchse und Rehe erscheinen und schmiegen sich in traum­durchwirkte Naturreiche.
Die Bilder weichen ab vom Offensichtlichen. Farben und Formen entsprechen nicht dem, was das Auge auf den ersten Blick in der Natur wahrnimmt. Sie sind aus einer anderen Sichtweise entstanden. Einer feineren, die sich hinter die Erscheinungen der Welt tastet. So sahen und malten die Frauen und Männer des Blauen Reiter. Zu Anfang des letzten Jahrhunderts sprengten sie in wenigen Jahren – quasi im Galopp – die tradierten Bahnen der Salonkunst und brachen etwas völlig Neuem Bahn. Das, was sie da einbrachten, befreite und vertiefte die bildende Kunst mit Konsequenzen bis heute. Eine Gegend, circa 70 Kilometer südlich von München, hängt unmittelbar mit diesem Impuls zusammen.
«Blaues Land» steht auf einem braunen Schild neben der Autobahn. Es geht noch einmal über eine bewaldete Kuppe, dann tauchen die Berge auf. Mächtig. Und schön. So eindrucksvoll, wie man es vergisst, wenn man sie länger nicht gesehen hat. Die Bene­diktenwand, der Herzogenstand der Heimgarten, dann das Wettersteingebirge mit Zug- ­spitze. Ihnen zu Füßen ein sanft gewelltes Land mit Weiden, wundervollen Seen, Wäldern und Mooren. Ein grünes Land eigentlich, das sich aber immer wieder in ein zauberhaftes Blau hüllt.
Zu bestimmten Wetterlagen und Tageszeiten liegt die Farbe förmlich in der Luft, dann ist ein Spaziergang dort wie ein Bad im Blau. Dann werden die Berge transparent und staffeln sich von hell- bis dunkelblau in der Tiefe des Raumes. Der Maler Franz Marc wird darum wohl nicht der Erste gewesen sein, der liebevoll vom Blauen Land sprach. 1880 in München geboren, kannte er die Gegend seit seiner Kindheit und zog im Frühling 1910 hierher, ins kleine Sindelsdorf, unweit des Kochelsees.
Ebenso fasziniert von der Landschaft war ein anderer Künstler aus München.

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Fotos: © Wolfgang Schmidt | www.wolfgang-schmidt-foto.de | Durch die Bildergalerie geht's per Klick auf die Klammern

Der Russe Wassily Kandinsky kam in den Sommermonaten regelmäßig mit seinen Mal­klassen. Darunter eine talentierte Schülerin, Gabriele Münter, die ihren Lehrer «immer famoser und verehrungswürdiger fand». Die Zuneigung war gegenseitig. Ein paar Jahre später zogen beide ins nahe gelegene Murnau, wo Münter ein Haus erstand.
Der Marktflecken liegt auf einer Anhöhe den Bergen gegenüber. In Murnau blickt man wie von einer Tribüne über das Tal der Loisach und seine weite Moorlandschaft. Wie ein stilles Kraftfeld wirken die Berge im Hintergrund. Ihre Präsenz wird beim Durchstreifen der Gassen immer wieder neu erlebbar. Meist haben sich dann schon wieder die Lichtverhältnisse geändert, sind neue Wolkenreiter an den Hängen aufgetaucht. Kleine, helle Drachen, die tief fliegen. Im Sommer zieht die Lage zahlreiche Touristen an. Jetzt im Winter ist es ruhiger, wirkt der Ort mehr bei sich. Das Münter-Haus steht etwas abseits des Zentrums unter alten Bäumen. In der Tat ein malerisches Häuschen. Innen preschen bunte Reiter von Kandinsky das Treppenhaus hinauf. Auch die Möbel sind von ihm verziert. Durch die Fenster zur einen Seite der – viel gemalte – Blick auf Murnau, zur anderen Seite der Blick in die Weite des Landes.
Im Sommer 1908 teilen Münter und Kandinsky die Begeisterung an der Gegend mit einem befreundeten Künstlerpaar: Alexej Jawlensky und Marianne Werefkin – Landsleute Kandinskys – kommen für mehrere Wochen aus München auf Malbesuch. Von Jawlensky, für den Kunst «Sehnsucht zu Gott» ist, hängt heute unter anderem das Bild Sommerabend in Murnau im Lenbachhaus. Es stammt aus diesem besonderen Sommer, in dem alle vier eine starke künstlerische Entwicklung erleben.
Jawlensky gibt den Sommerabend in intensiven, kaum gemischten Farben wieder. Von einem Murnauer Hügel geht der Blick über das Moor. Die Berge liegen im Blau, Himmel und Wolken leuchten im Licht einer Sonne, die schon hinter den Bergen verschwunden ist. Der Maler verzichtet darauf, in die Details der Landschaft zu gehen, und konzentriert sich ganz auf ihre großen Formen und Flächen. Eine Vereinfachung auf das Wesentliche. Es ist die Synthese – so nennt er es – zwischen äußerer Welt und inner­lichem Eindruck, die er in diesem und anderen Bildern abbildet.

Auch für die anderen drei wird diese Form des künstlerischen Ausdrucks immer wichtiger. Es geht ihnen nicht mehr nur darum, die materielle Wirklichkeit abzu­bilden, sondern das, was sie beim Betrachten der Welt innerlich erleben. Sie nehmen die Spur des geistigen Eindrucks auf, den die Welt in ihnen erzeugt, und nähern sich ihm durch die Malerei.
Ähnlich denkt, fühlt und malt auch Franz Marc, der später dazustößt. Mit ihm wird Kandinskys Vor­haben Wirklichkeit, einen Almanach herauszugeben, der ihre Bestrebungen für eine Erneuerung der Kunst zusammenfasst. Das Buch wird zu einer der einflussreichsten Programm­schriften der Kunst des 20. Jahrhunderts. Sie nennen das Werk Der Blaue Reiter. «Den Namen erfanden wir am Kaffeetisch in der Gartenlaube in Sindelsdorf; beide liebten wir Blau, Marc – Pferde, ich – Reiter. So kam der Name von selbst. Und der märchenhafte Kaffee von Frau Maria Marc mundete uns noch besser», erinnert sich Wassilys Kandinsky. Für das Titel­motiv des Bandes wandelt er einen Holzschnitt ab, der den heiligen Georg mit dem Drachen zeigt.
Der Georgsreiter ist in Murnau und Umgebung sehr präsent. Man findet ihn auf Brunnen, in Kirchen und auf den volkstümlichen Hinterglasmalereien, von denen die Künstler fasziniert waren. St. Georg steht Kandinsky auch als einer der wichtigsten Heiligen Russlands nahe, der Heilige findet sich auf zahlreichen seiner Bilder. Aber auch Gabriele Münter und August Macke – der ebenfalls zum Kreis des Blauen Reiters stößt – studieren und malen den Drachen­töter. Vermutlich spielte dabei auch die spirituelle Auslegung eine Rolle, die die Lanze des Georgreiters als den Strahl des Bewusstseins sieht, mit dem das Ungeheuer des dumpfen Materialismus überwunden wird. Kandinsky geht es um ein Ergreifen dieses Bewusstseins und die Erkenntnis der geistigen Welt: «Mein Buch Über das Geistige in der Kunst und ebenso Der Blaue Reiter hatten hauptsächlich zum Zweck, diese unbedingt in der Zukunft nötige, unendliche Erlebnisse ermöglichende Fähigkeit des Erlebens des Geistigen in den materiellen und in den abstrakten Dingen zu wecken. Der Wunsch, diese beglückende Fähigkeit in den Menschen, die sie noch nicht hatten, hervorzurufen, war das Hauptziel der beiden Publikationen.»

Eine viertel Stunde zu Fuß vom Münter­haus, am Rand des Murnauer Moos, steht eine kleine Kapelle, die dem heiligen Georg geweiht ist. Ein uralter heiliger Ort, den die «Blauen Reiter» gerne besuchten. Neben dem Altar mit Georg und Drachen hängt eine geschmiedete Handglocke, die im 8. Jahr­hundert von iroschottischen Mönchen aus Iona in Westschottland hierher gebracht wurde. Es ist die älteste Kirchenglocke auf dem europäischen Festland.
Vor dem kleinen Portal der Kapelle liegt das größte Alpenrandmoor Mittel­europas. Gegen die weite strohgelbe Fläche heben sich die Berge ab – wieder mal in Spielarten von Blau. In seiner Abhandlung Über das Geistige in der Kunst, an der er in Murnau arbeitet, schreibt Kandinsky: «Die Neigung des Blau zur Vertiefung ist so groß, dass es gerade in tieferen Tönen intensiver wird und charakteristischer innerlich wirkt. Je tiefer das Blau wird, desto mehr ruft es den Menschen in das Unendliche, weckt in ihm die Sehnsucht nach Reinem und schließlich Übersinn­lichem. Es ist die Farbe des Himmels, so wie wir ihn uns vorstellen bei dem Klange des Wortes Himmel … Musikalisch dargestellt ist helles Blau einer Flöte ähnlich, das dunkle dem Cello, immer tiefer gehend den wunderbaren Klängen der Baßgeige; in tiefer, feier­licher Form ist der Klang des Blau dem der tiefen Orgel vergleichbar.»
Das vielleicht schönste und vielfältigste Blau der Gegend lässt sich an den Ufern des Kochelsees finden. Berge und Wasser zaubern hier gemeinsam. Nicht weit vom See, einen kleinen Hügel hinauf, steht das Franz-Marc-Museum. Es hütet viele Bilder des Blauen Reiters. Seine kluge Architektur bezieht durch Glasfronten auch die Landschaft immer wieder mit ein. Draußen schimmert der See durch die Bäume. «Die Neigung des Blau zur Vertiefung ist groß.»