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Wolfgang Held

Worauf es ankommt

Nr 231 | März 2019

«Das ist Herr Held, er ist jetzt eine Woche bei uns», sagt die Lehrerin und 30 Augenpaare schauen mich an. Ich erzähle kurz von meinem Projekt, ein Buch über Waldorf­päda­gogik zu schreiben, und bin dabei still berührt, wie unbefangen und vorurteilsfrei Kinder und Jugendliche schauen können. Dann geht der Unterricht auch schon los.
In der ersten Stunde notiere ich viel, denn noch weiß ich nicht, worauf es ankommt, was hier bei dieser Lehrerin und in dieser Klasse das Besondere ist. Es dauert aber nicht lange – und dann ist da einer dieser Momente, der mehr erzählt als vielleicht eine ganze Schulstunde. Johanna Altmann, die Sportlehrerin aus Schopfheim, versammelt die Schülerinnen und Schüler der 11. Klasse vor der Stunde in Bodenturnen in einem kleinen Kreis um sich, als würden sie als verschworene Gemeinschaft um ein Lager­feuer kauern, so erscheint es mir. Und tatsächlich: dieser kameradschaftliche Auftakt macht es möglich, dass wenig später sich alle beim Flickflack mutig und vertrauend nach hinten fallen lassen. «Das kann ich nicht!» von einer Schülerin – und «Du schaffst das!» von der Lehrerin folgen dicht aufeinander. Weil schließlich allen der Überschlag gelingt, sie also ihren Mut zusammennehmen und dabei sprichwörtlich über ihren eigenen Schatten springen, ist dieser Sportunterricht eine Erfahrung, eine Schule fürs Leben.
Ich sitze meist am hinteren Rand in den Schulklassen und verfolge das Auf und Ab im Unterricht – und dann ereignet sich mit einem Mal ein Wunder. Wir können unsere Kinder hundert Mal fragen: «Wie war’s heute in der Schule?» Sie werden uns von solchen Momenten wohl selten erzählen, weil sie kaum zu beschreiben sind. Ja, vielleicht auch deshalb nicht, weil die Schüler selbst kaum bemerken, was da geschieht.
So war es zum Beispiel bei meinem Besuch von Iru Mun, dem Musiklehrer an der Waldorfschule Berlin-Kreuzberg. Die Abiturklasse unterrichtet er in einem etwas kleinen Raum im Keller der Schule. Mun hatte mich vorgewarnt, und dennoch musste ich schlucken, als ich eintrat: eine Gerümpelkammer! Kein Tageslicht – stattdessen Heizungsrohre und Lichtröhren an der Decke. In der Mitte steht der Flügel mit Bergen von Noten und einem CD-Player darauf. Liedgesang ist das Thema in der Klasse. Erst spielt und singt der Lehrer ein Lied von Schubert, dann drückt er auf Start, sodass es aus den Boxen klingt: «Ich träumte von bunten Blumen, So wie sie wohl blühen im Mai ...» Zwei Mädchen, die zuvor noch getuschelt hatten, werden still, ein Junge schaut auf. Das Lied ergreift alle – auch mich. Der Kellerraum verwandelt sich in eine Kathedrale, wir alle sind verzaubert. Als der Gesang endet, ist es ganz still. «Wow!», sagt mit leichtem Kopfschütteln eine Schülerin.
Vielleicht vergessen die Schüler diese kleine Episode später. Was ihnen aber wohl für immer bleibt, ist dieses erhabene Erlebnis. Dies ist ein Augenblick, den der Lehrer nicht hat planen oder zwingen können, für den er aber gleichwohl Tage, vielleicht Wochen mit den Schülern vorgearbeitet hat. Der Unterricht geht weiter, als wär nichts geschehen.
Als ich nach der Stunde Iru Mun darauf anspreche, nickt er und lächelt: «Schön, dass du es bemerkt hast.» Dann erklärt er mir, dass er früher versucht hat, solche himm­lischen Momente festzuhalten, heute aber lässt er sie gehen. «Das ist so kostbar. Die Schüler wissen es, ich weiß es, da ist es das beste, wenn man gar nicht darüber spricht.» – Dieser Moment ist einer von vielen, der mir zeigte, dass das Wesentliche im Unterricht jenseits der Sprache liegt. Bei dem Physiklehrer Thomas Neukirchner in Karlsruhe waren es sein fragender Blick, seine Halbsätze, die er nicht beendete, sein Innehalten. Mit jeder Faser rief er still den Schülern zu: «Lernt fragen!»
Zwölf Unterrichtsgeschichten sind so im Buch Das ist Waldorfschule! zusammen­gekommen. Sie zeigen, dass es nicht die Waldor­fpädagogik gibt, wohl aber Waldorf­pädagogen. Dem «Reisebericht» durch die Waldorfwelt habe ich sieben Kernpunkte, was diese Pädagogik für mich ausmacht, vorangestellt. Denn natürlich gibt es auch «die» Waldorfpädagogik – aber sie hat viele Farben.