Doris Kleinau-Metzler

Von Mineralien und Störungen

Nr 232 | April 2019

«Hinter der Hacke ist es duster …»

Auf allen Fensterbrettern bei mir zu Hause liegen Steine, mitgebracht aus diversen Urlauben. Manchmal streiche ich über die sanft geschwungene Form eines Steines, wundere mich über das Glitzern und Glimmern eines anderen. So meldete ich mich zu einem Kurs für Mineraliensuche und Bestimmung erzgebirgischer Minerale im Kunsthof Maxen an. Weil ich Steine mag, die Umgebung südlich von Dresden schön finde – und es passte, mal wieder aus dem engen Rhein-Main-Gebiet herauszukommen.
Als Leitung des Kurses wurde Dr. Klaus Fendrich angekündigt, ein erfahrener, ortskundiger Mineraloge. Und unsere Handvoll Interessierter wurde durch den kleinen Mann mit weißen Haaren wirklich drei Tage lang begeistert und ermutigt – Steine aufzuheben, mit dem Hammer abzuklopfen, nach Achat-Einlagerungen zu begutachten, diesen in den Beutel zu tun, jenen wegzuwerfen (zumal der Beutel schwerer und schwerer wurde). Und zum nächsten Acker zu fahren, zu den von Klaus Fendrich in jahrelanger Kleinarbeit auf Achatvorkommen erkundeten Feldern zwischen Freiberg, Frauenstein und Altenberg. Mit nie erlahmender Auskunftsfreude antwortete er auf unsere Fragen, was das denn für ein Stein sei, warum er denn gerade auf diesem Acker zu finden sei. «Das is nuscht – aber schön. Da, die Einlagerungen, die Druse …», zeigte er. Schnell ver­standen wir, warum unser Leiter am ersten Tag bemerkte: «Spucke braucht ihr viel» und lachte. Den staubig-lehmigen Steinen sieht man ihre Schönheit darunter nicht an (zum Glück hatte er am zweiten und dritten Tag große Spritzwasserflaschen dabei).

Als Erstes lernten wir einen Begriff aus der Geologie kennen: Die meist orangerot gefärbten Achatbildungen und die lila durchsichtig schimmernden Amethyste aus dem Berghang bei Schlottwitz sind durch thermale Ablagerungen in einer «Störung» entstanden. Vor über 230 Millionen Jahren, als es primitives Leben an Land gab wie die Lurche, fanden gewaltige Erschütterungen statt, die Verschiebungen der Gesteine er­gaben, «Störungen». «Und alles, was in der Erde im Kleinen passiert, hat Auswirkungen kilometerweit und Jahrmillionen.»
Der für mich unvorstellbar lange Zeitraum des Werde­prozesses unserer heutigen Erde, das unsichtbare Erdinnere – und nun wir hier, die schöne sonnige Landschaft vor Augen und all die auf uns wartenden Achate, deren Entstehungsgrund so dramatisch ist … Akrobatik im Kopf, die fasziniert.
Faszination steht auch am Anfang des Weges von Klaus Fendrich in die Mineralogie. «Meine Eltern kamen nach dem Krieg als Flüchtlinge nach Grimmen südlich von Stralsund. Um Geld für die siebenköpfige Familie zu verdienen, ist mein Vater in den Bergbau zur ‹Wismut› gegangen, dem 1946 von der Sowjetunion gegründen Uranbergwerk. Bei einem Besuch zu Hause schenkte er mir einen kleinen Stein, einen Amethyst. Warum ist der violett? Das konnte mir keiner beantworten. Als ich in der Oberschule den Physikraum zu betreuen hatte, machte ich nach dem Unterricht Versuche an Kristallen mit Alaun und schaute mir mit dem Mikros­kop Steine und Minerale an – das hat mich begeistert! Mein Vater schrieb mir in einem Brief: Sohnemann, wenn du Lust hast zu studieren, dann studiere Bergbau oder Minera­logie. Den Stein des Anstoßes von meinem Vater, den habe ich heute noch.»
Klaus Fendrich studierte von 1955 bis 1960 an der Bergakademie Freiberg Mineralogie und Geochemie. Hier lernte er auch seine Frau kennen, die ebenfalls Mineralogin ist. Er schloss das Studium mit guten Noten ab, wurde Assistent bei seinem Professor und promovierte. «Ich hatte wirklich hervor­ragende Hochschullehrer, auch an der Oberschule vorher hatte ich Glück mit den Lehrern. Unsere Ausbildung in Geochemie und Mineralogie in Freiberg war sehr praxisbezogen. Wir mussten auch ein Untertage-Praktikum machen, wo wir Erz gebrochen und Loren gefüllt haben.»

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Fotos: © Axel Täger | Durch die Bildergalerie geht's per Klick auf die Klammern

Nach seiner Promotion 1965 ging Klaus Fendrich für ein einjähriges Zusatz­studium «Erkundungsgeologie» nach Moskau. «Wir hatten drei kleine Kinder, und meine Frau war berufstätig, es war eine schwere Zeit für sie. Nach meiner Rückkehr aus Moskau konnte ich als Erkundungsgeologe bei dem volkseigenen Betrieb VEB – Geologische Erkundung Freiberg einsteigen, die Braun­kohlelagerstätten in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen auf industriemäßige Erschließung erkundeten. Das Deckgebirge muss genau erforscht werden, bevor es abgebaggert wird, ebenso die hydrogeologischen Verhältnisse. Eine komplexe und interessante Aufgabe!» Ab 1973 vertrat Dr. Klaus Fendrich für fünf Jahre als eine Art «geologischer Diplomat» die Interessen seines Landes im Sekretariat des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) in Moskau. «Ich war mit der ganzen Familie dort. Wir sind viel gereist, haben Elche ge­sehen, am Lagerfeuer gesessen. Es war eine wunderschöne Zeit!»
Wie hat Klaus Fendrich die Wende, den Zusammenbruch der Deutschen Demokratischen Republik und die Angliederung an die Bundesrepublik 1989/1990 erlebt? Er wird ernst. «Ich bin durch die Republik gefördert worden und groß geworden. Für mich ist eine Welt zusammengebrochen! Bis 1995 habe ich gebraucht, um mich zurechtzufinden. Erst wurden Leute ‹von drüben› geschickt, die unheimlich überheblich hier aufgetreten sind. Die meinten, wir hier könnten alle nicht arbeiten, seien faul und sie würden uns das beibringen. Wenn man dann mitbekommt, dass der und der Betrieb für nen Appel und nen Ei aufgekauft wurde, die Fördermittel abgeschöpft wurden und nach drei Jahren die gut laufenden Maschinen rausgenommen wurden oder verschrottet – und die Leute alle entlassen … Ich habe Freunde gehabt, die das nicht verkraftet haben. Einer von ihnen hat sich vor den Zug geworfen …» Klaus Fendrich wischt sich Tränen aus den Augen. «Das Verhältnis der Leute untereinander ist ganz anders geworden. Ich hatte auch wieder Glück, als Lagerstätten- und Erkundungsgeologe war ich ja wirtschaftlich orientiert. 1992 fing die ‹Wismut› an, ihre radioaktiv belasteten Standorte zu sanieren, und ich arbeitete bis zu meiner Rente 2000 dabei mit. Die Fachleute beim Bundesamt für Strahlenschutz in Frankfurt/Main habe ich als feine Kumpel erlebt.»

Aber das, was in der Erde steckt, beschäftigt Klaus Fendrich auch in seiner Rentnerzeit, wie unser Mineralienkurs belegt. Entsprechend ist der Abschluss unseres Kurses ein Besuch in dem seit dem 16. Jahrhundert bis 1817 ausgebauten «Trau-auf-Gott-Erbstolln» in Lichtenberg. Die Grubenlampen auf unseren gelben Helmen weisen den Weg durch den erstaunlich gut belüfteten, engen und feuchten Stollen, violett schimmert das Fluorit-Chalcedon-Gestein. «Der Bergmann sagt: Hinter der Hacke ist es duster. Das ist so! Du weißt nicht, was kommt.»
Oft hörten wir Hobby-Mineralien­sucher in diesen Tagen von Klaus Fendrich: «Gratulation! Den Stein hat vor dir noch niemand in der Hand gehabt. Den privatisieren wir.» Mir gefällt der Gedanke; ich stutze beim Wort «privatisieren». Später denke ich, dass darin auch etwas von dem vielfältigen Erfahrungsunterschied zwischen «uns Westlern» und Klaus Fendrich als «Ostler» mitschwingt. In der DDR stand das Volkswohl im Mittelpunkt, eine Erfahrung, die prägt und ihren Wert hat (auch wenn es an der Umsetzung dieses Ziels haperte und die Freiheit des Einzelnen massiv eingeschränkt war). Die Wende 1989 war eine Art «Störung» im Lebenslauf von Klaus Fendrich – die zu dem Menschen gehört, den wir schätzen gelernt haben.

Die Erde braucht lange, um uns schöne Mineralien zu bieten, aber auch Braunkohle – die im Ofen schnell verbrennt und heute wegen der Auswirkungen auf Landschaft und Klima umstritten ist. Es waren andere Zeiten, damals in der DDR und damals in der BRD. Erzählend, verstehend kann man Neues und Eigenes entdecken, das hier südlich von Dresden gewachsen ist. Sicher braucht es dazu mehr als drei Jahrzehnte, der Prozess auf und sicher auch in der Erde ist nicht abgeschlossen. «Hinter der Hacke ist es duster.» Aber das sanfte violette Leuchten meines in Schlottwitz freudig ausgebuddelten Amethysts ist ein Lichtblick von vielen.