Am Anfang war das Glück. Möglicherweise ist dieser Satz, wenn überhaupt, nur unvollkommen zu verteidigen und noch schwerer zu begründen. Doch drängt er sich mir schon seit geraumer Zeit auf. Ich weiß auch, bei welchem Anlass er sich bei mir bemerkbar machte. Es war bei einer wiederholten Lektüre der Autobiografie Rudolf Steiners Mein Lebensgang. Wenig mehr als ein Jahr vor seinem Tode am 30. März 1925 beginnt er für die Wochenschrift Das Goetheanum über sein Leben zu schreiben: am 9. Dezember 1923 erscheint die erste Folge, am 5. April 1925 posthum die siebzigste und letzte Folge mit der Zugabe «Fortsetzung in nächster Nummer». In der dritten, zu Weihnachten 1923 erscheinenden Folge erzählt Rudolf Steiner, wie er im achten Lebensjahr nach Neudörfl, einem kleinen ungarischen Dorfe, in dem sein Vater die Bahnstation zu besorgen hatte, in die Schule kam. Bei dem Hilfslehrer entdeckt er ein Geometriebuch.
«Ich stand so gut mit diesem Lehrer, dass ich das Buch ohne Weiteres eine Weile zu meiner Benutzung haben konnte», erzählt Rudolf Steiner im Rückblick und fährt fort: «Mit Enthusiasmus machte ich mich darüber her. Wochenlang war meine Seele ganz erfüllt von der Kongruenz, der Ähnlichkeit von Dreiecken, Vierecken, Vielecken; ich zergrübelte mein Denken mit der Frage, wo sich eigentlich die Parallelen schneiden; der pythagoräische Lehrsatz bezauberte mich.» – Und nun folgt die entscheidende Selbstbesinnung: «Dass man seelisch in der Ausbildung rein innerlich angeschauter Formen leben könne, ohne Eindrücke der äußeren Sinne, das gereichte mir zur höchsten Befriedigung. Ich fand darin Trost für die Stimmung, die sich mir durch die unbeantworteten Fragen ergeben hatte. Rein im Geiste etwas erfassen zu können, das brachte mir ein inneres Glück. Ich weiß, dass ich an der Geometrie das Glück zuerst kennengelernt habe.»
Wann hast du zuerst das Glück kennengelernt?, fragte ich mich, als ich diese Schilderung bewusst entgegennahm. Vielleicht ergäbe sich für jeden Menschen eine vielsagende, grundlegende Signatur der eigenen Biografie, wenn dieses erste Kennenlernen des Glücks erkannt werden könnte. Für Rudolf Steiner eröffnete sich an der Geometrie das Tor von der eigenen geistigen Einsamkeit in die geistige Gemeinschaft mit der Welt, wie er dies für die Anthroposophie ebenfalls wenige Monate vor seinem Tode im ersten seiner «Leitsätze» formulierte: «Anthroposophie ist ein Erkenntnisweg, der das Geistige im Menschenwesen zum Geistigen im Weltenall führen möchte.»
Durch Rudolf Steiners ganzes Leben, das vor 150 Jahren am 27. Februar 1861 in Kraljevec auf der Murinsel im heutigen Kroatien begann, und durch sein ganzes rastloses Wirken zieht sich wie ein roter Faden dieses: uns an seinem Glück teilnehmen zu lassen, damit wir auch unser Glück finden und erkennen können.
Von Herzen grüßt Sie zum neuen Jahr 2011
Ihr Jean-Claude Lin