Ich habe im Hinblick auf diese einleitenden Zeilen einige Zeit gebraucht, um über die Zeichensetzung nachzudenken. Wer bist du? Mensch. – schien mir zuerst treffender. Aber dann könnte «Mensch» am Ende bereits als die Antwort empfunden werden. Das ist er auch, aber er ist ebenso zunächst die Frage, die allerdings auch die Nuance eines Ausrufezeichens in sich birgt!
Was ist der Mensch, wer bin ich und wer bist du?, ist die schwierigste aller Fragen. Wie kann ich hoffen, die Welt, in der nicht nur ein Mensch, sondern gleich viele, viele Menschen vorkommen, zu verstehen, oder auch Gott, der den Menschen erschaffen haben soll, wenn ich mich selbst nicht wirklich
verstehe? –
Diese September-Ausgabe unseres Magazins mag einigen wie eine ziemliche Zumutung vorkommen. Sowohl der in der Ferne rastlos reisende Reporter Andreas Altmann als auch die mit einem Sondermodell Willi begabte Illustratorin Birte Müller finden ungeschminkte Worte für ihre Erfahrungen und ihre Ansichten über das Leben. Mit ihrer unbequemen Deutlichkeit rufen sie bei mir in Erinnerung, dass es einen «Fehler» gibt, den ich nur sehr, sehr schwer verzeihen kann: die Heuchelei. Wer heuchelt, macht es eben fast unmöglich, eine Antwort auf meine Eingangsfrage zu finden, weil er sich verstellt. Und ich muss auch daran denken, wie seltsam es ist, dass eine Kultur, in der die Heuchelei sich wie epidemisch verbreitet, weil in ihr das Gesicht wahren oberstes Gebot ist, einst in ihrem philosophischen goldenen Zeitalter einen kleinen Klassiker – den Zhongyong, eines der «Vier Bücher» des Konfuzianismus – hervorgebracht hat, in dem die Wahrhaftigkeit als die zentrale und grundlegende ethische und kosmologische Kategorie fungiert.
Diese Kultur, die chinesische, ist Teil meines persönlichen Erbes. Sie fördert aber zutage, was für alle Menschen über kurz oder lang von Bedeutung sein wird: Wie sie es mit der Heuchelei halten und wie sie zur Wahrhaftigkeit finden. Menschen wie Andreas Altmann oder Birte Müller sind unbequem, weil sie unsere Heuchelei entlarven. Aber ohne sie hätten wir es viel schwerer, lebensvolle und lebensfreudige Antworten auf die Frage zu finden:
Wer bist du, Mensch?
Allen Fragenden wünsche ich ebenso befriedigende, weiterbringende wie erheiternde Antworten!
Ihr Jean-Claude Lin