Jean-Claude Lin

Worum geht es im Leben?

Nr 149 | Mai 2012

Naivität ist nicht unbedingt eine Eigenschaft, die einer nachgesagt bekommen möchte. Und doch – als einmal der deutsche Philosoph Johann Gottlieb Fichte mit dem Berliner Prediger Friedrich Severin Metger und dem dänischen Dichter Adam Gottlob Oehlenschläger im Gespräch war, reklamierte ausgerechnet der vielgerühmte wie vielgescholtene Begründer der «Wissen- schaftslehre» – mit ihrer epochemachenden «Tathandlung»: Das Ich setzt sich selbst. – die Eigenschaft, naiv zu sein, für sich.
«Nein, vergeben Sie gütigst, Herr Professor,» sagte der sanfte, bescheidene, aber auch wahrheitsliebende, charakterfeste Metger, wie Oehlenschläger in seiner Selbstbiographie berichtet, «naiv sind Sie nicht!» – «Was!», rief Fichte, «bin ich nicht naiv? Was sagen Sie dazu, Oehlenschläger?» – Und Oehlenschläger antwortete: «Wenn Naivität darin besteht, ein eignes Naturell ohne Rücksicht auf Konvenienz, mitunter schnell, ohne Reflexion, zu äußern, so kann man Ihnen gewiss nicht Naivität absprechen. Ich denke, ein jedes Genie, selbst ein philosophisches, muss etwas Kindliches, Unbewusstes haben, sonst mangelt ihm die Grazie.» Gegen diese Antwort hatte der große Philosoph, nach Oehlenschläger, nichts einzuwenden.*
Mich dünkt, sowohl Ulrich Wickert, der uns als «Mister Tagesthemen» noch in warmer Erinnerung ist und sich heute vielfach für eine gerechtere Welt engagiert, wie auch die fünf Frauen der Band «Kick La Luna» hätten nichts dagegen, in diesem Sinne als naiv zu gelten. Dadurch erhalten sie sich die für das Wirken in der Welt so notwendige Grazie, den Charme.

Mit einem heiteren Gruß in den Wonnemonat Mai
bin ich fürderhin ergebenst, Ihr


Jean-Claude Lin



*Aufgelesen in Fichte im Gespräch, Band 3: 1801 – 1806. Herausgegeben von Erich Fuchs in Zusammenarbeit mit Reinhard Lauth und Walter Schieche, frommann-holzboog, Stuttgart-Bad Cannstatt 1981.