Am 19. Mai badete ich in der Menge. Mit geschätzten 350 Millionen anderen Fernsehzuschauern weltweit schaute ich das Champions League Finale zwischen dem FC Bayern München und dem Londoner FC Chelsea an. Fußball ist eine Leidenschaft, die schwer abzuschütteln ist. Ich bin mit ihr in England groß geworden, ging, wie mein dichtender französischer Großvater, der im französischen Gymnasium Griechisch, Latein und Französisch unterrichtete, in das Stadion der «Gunners» von Arsenal, dem «Erzfeind» von Chelsea. Weshalb bei mir in der Familie selbst auf der grünen Insel alle für Bayern München waren. Da hört der Patriotismus einfach auf. Nicht so hierzulande, wo viele Deutsche, die sonst nur Häme und Schadenfreude bei einer Niederlage des Rekordmeisters Bayern München empfinden, doch für diesen waren. Aber am 19. Mai war den Münchnern das Glück nicht hold. Sie waren eindeutig die leidenschaftlichere, schnellere, spielerische Mannschaft. Allein die Tore fielen nicht. Das einzige Tor für die Münchner in der regulären Zeit durch Thomas Müller war ein Kuriosum: mit dem Kopf nicht ganz richtig getroffen, so dass der Ball auf den Boden dotzte, um dann von der Latte zwischen den hoch gestemmten Armen des Chelsea Keepers Petr Cech doch hinter der Torlinie zu landen. Es war ein erheiternder und befreiender Zufall. Aber zum Bedauern aller, die für die Bayern waren, währte das Glück nicht lange. Es kam der Ausgleich durch Didier Drogba, schnell, hart und präzise mit dem Kopf beim allerersten Eckball für die Männer in Blau. Dann die torlose Verlängerung, trotz Elfmeterchance für Arjen Robben, und schließlich das Vabanque des Elfmeterschießens. Man ahnte schon: dieser Abend gehört nicht den Bayernspielern. Vielleicht hätte der Trainer Jupp Heynckes nicht den angreifenden Thomas Müller für den defensiven van Buyten in der 87. Minute auswechseln sollen. Angriff ist die beste Verteidigung heißt es ja! Das ist aber eine müßige Spekulation. Eher fühlte sich die Partie so an, als ob es nur so und nicht anders hätte kommen können. In der eigenen Allianz-Arena war der FC Bayern München vorbildlicher Gastgeber:
Sie haben einen leidenschaftlichen, bewegten und bewegenden Abend gestaltet und den Gästen den Vortritt gelassen.
Wenn diese Zeilen gelesen werden, werden sich durch die Fußball-Europameisterschaft der Männer einige andere Dramen abgespielt haben. Wird alles so sein, wie es kommen musste? An einem 19. Mai wurde vor 250 Jahren ein Deutscher geboren, der erst mit 28 Jahren sein tief verwurzeltes deterministisches Lebensgefühl abschütteln konnte: Johann Gottlieb Fichte. «Ich will frei sein …
ich selbst will mich machen, zu dem, was ich sein werde.» Dies schrieb er im Jahr 1800 nach der schmerzvollsten Niederlage seines Lebens in seinem Werk Die Bestimmung des Menschen.
Das Spielen selbst ist die Freiheit, nicht das Ergebnis.
Schöne spielfreudige Sommertage wünsche ich Ihnen,
Ihr
Jean-Claude Lin