Liebe Leserinnen, liebe Leser,
In unserem Garten wohnt ein Regenmolch, auch bekannt als Regenmännchen oder Feuersalamander. In diesem Jahr ließ er sich wegen des besonders niederschlagsreichen Juni oft blicken. Als Kind schon begeisterten mich diese Tiere, die ich aus gebührendem Abstand beobachtete, wenn immer es möglich war. Auch wenn sein Name (dessen Herkunft wiederum eine eigene Geschichte ist) es zunächst nicht erwarten lässt, hat der landbewohnende Salamander doch eine innige Beziehung zum Wasser. Er liebt es feucht und dunkel, verkriecht sich in Hohlräumen und laicht in Bächen und stillen Gewässern, die Larven platzen bei der Freisetzung auf, sodass die Jungtiere lebend im Wasser geboren werden.
Das Wasser ist unser aller mütterliches Element. Bevor wir Erdenbürger werden, sind wir ganz von ihm umhüllt. Wasser begleitet uns unser Leben lang und hält uns am Leben. Es trennt und verbindet Länder, Kontinente, Welten. Wer «in die andere Welt» gelangen will, muss den mythischen Fluss überqueren; und wer wie Tamino und Pamina in Mozarts Zauberflöte die Wasserprobe bestanden hat, hat die Fähigkeit erworben, auch ohne die äußeren Sicherheiten der materiellen Wirklichkeit in ständig wechselnden, schwankenden Verhältnissen Kurs zu halten.
In dieser Ausgabe können Sie, liebe Leserinnen und Leser, immer wieder dem wunderbaren Element des Wassers und den mit ihm verbundenen Herausforderungen begegnen. So zum Beispiel in der Musik von Claude Debussy, an der wir uns darin üben können, hörend und fühlend in übergangslos fließenden harmonischen Gewässern die Orientierung zu behalten; sei es beim Surfen, einer wunderbaren Erfahrung, die, wie unsere Reportage zeigt, bis ins hohe Alter jung hält. Aber auch die zerstörende Macht des Wassers kommt zur Sprache – denn letztlich ist unsere Klimakrise in hohem Maße eine Wasserkrise, wie der Wasserkundler Wilhelm Ripl eindringlich zeigt. Rasch kann das Elixier des Lebens zur Todesflut werden.
Die Verbindung zwischen der Sphäre des Wassers, die bekanntlich 71 % unseres blauen Planeten bedeckt, und uns Menschen ist also existenziell. Daher wird es auch ganz von uns abhängen, ob wir als Menschheit unsere große Wasserprobe bestehen werden.
Einen nicht zu trocknen August wünscht Ihnen
Frank Berger
Leichtigkeit –
«Feen sind exquisite Tänzerinnen»
Zu Claude Debussys 150. Geburtstag
Als ich mein Klavierstudium in den Niederlanden begann, verdonnerte mich mein Professor von Anfang an dazu, viel Debussy zu spielen. Begründung: «Ihr Deutschen tut euch schwer mit der Art von Subtilität, die diese Musik erfordert. Debussys Element ist die perlende Leichtigkeit, Schwerelosigkeit, verbunden mit Geschmack und Ésprit.»
Er hatte recht und unrecht zugleich: Denn es gab große deutsche Pianisten wie Walter Gieseking oder Werner Haas, die geradezu göttlich Debussy spielten. Und ja: Wer in die Welt von Claude Debussy eindringen will, muss viel Gewohntes hinter sich lassen, bereit sein, sich in unbekannte Gefilde vorzuwagen und dort neue Fähigkeiten zu entwickeln.
Wer sich brav Bach, die Klassiker und die großen Romantiker erarbeitet hat, gerät bei der Begegnung mit Debussys Musik zunächst ins Schwimmen, manchmal auch ins Schleudern. Ins Schwimmen, weil es – in den Werken seiner Reifezeit – harmonisch nur noch wenig gibt, was dem traditionsgeprägten Ohr den gewohnten Halt bietet: Debussy hat eine Klangwelt entwickelt, die mehr aus Farben denn aus fest verketteten Akkorden besteht, und es ist diese Seite seiner Musik, die gemeinhin als «impressionistisch» bezeichnet wird. Ins Schleudern, weil die Welt, die hier betreten wird, zunächst ein Gefühl hervorruft, als befände man sich unter Einfluss einer starken Fliehkraft auf einer abschüssigen, eisglatten Straße ohne Geländer oder Leitplanke. Ich habe immer wieder Menschen kennengelernt, die schilderten, wie sie beim Hören dieser Musik in einen unangenehmen seelischen «Zwischenzustand» gerieten, ohne Bodenhaftung und ohne klare Orientierung. Hier hilft nur: Schwimmen und Fliegen lernen.
Debussy war, so kann man aus den Zeugnissen seiner Zeitgenossen folgern, die lebendige Inkarnation extrem gegensätzlicher Qualitäten: «Er ist ganz ungestüm und zugleich schüchtern. Seine Neigungen und Antipathien spricht er mit unverblümter Offenheit aus. Er ist außerordentlich reizbar. Eine Kleinigkeit kann ihn in die freudigste Stimmung versetzen. Eine Kleinigkeit kann ihn tagelang niedergeschlagen sein lassen. Er ist misstrauisch gegenüber der Welt. Darum begegnet er ihr mit einer Schroffheit, die vor allem ein Schutzwall gegenüber der eigenen Sensibilität ist. Mit all seinen brüsk zur Schau getragenen Eigenarten hat er etwas Faszinierendes für feiner organisierte Naturen.»
Er gibt sich einerseits äußerst aristokratisch wie ein Grandseigneur, pflegt einen erlesenen, feinen Geschmack und liebt seltene und
raffinierte Dinge. Bis in seine Studentenzeit schreibt er sich, offenbar um einen Adel anzudeuten, den er als sein eigentliches Wesen empfindet, «de Bussy» und führt lange seinen zweiten Namen Achille – nach dem nahezu unverwundbaren griechischen
Helden – als Hauptnamen. Doch dieser Achille de Bussy, geboren am 22. August 1862 (verstorben am 25. März 1918 in Paris), kommt aus einfachsten Verhältnissen und hat nie eine Schule besucht (die Grundschulpflicht wurde in Frankreich erst 1882 eingeführt). Sein Vater hatte ursprünglich einen kleinen Porzellanwarenladen, mit dem er irgendwann scheiterte, wonach er als Buchhalter bei einer Pariser Eisenbahngesellschaft unterkam. Durch besondere Fügungen wird das musikalische Talent des Jungen entdeckt, es findet sich eine reiche Gönnerin, die für die erste pianistische Ausbildung sorgt, und schon 1872 besteht er die Aufnahmeprüfung am Pariser Conservatoire. Dort zeigt der «wilde Junge», der nach Aussagen
seiner Mitstudenten wie ein typisches Arbeiterkind wirkt, ein sehr eigenwilliges Temperament, lässt sich nur ungern korrigieren, verachtet jede Zucht, läuft Sturm gegen jeglichen Akademismus.
Als er, Jahre später, als Stipendiat des begehrten «Rompreises», der Akademie nicht die Zusage abtrotzen kann, eine bestimmte Komposition seiner Wahl auf das Programm eines Festkonzerts mit Werken der Laureaten zu setzen, zieht er kurzerhand die Konsequenz – «entweder alles oder nichts» – und boykottiert das ganze Konzert. Zur feierlichen Preisverleihung erscheint er erst gar nicht.
Verschlossen, wortkarg, sprunghaft, launisch, eigensinnig, schroff und zu Wutausbrüchen neigend, gerne träumend, bummelnd, in kontemplatives Brüten versunken – es ist gerade diese ungewöhnliche Persönlichkeitsprägung, die Debussy zum querständigen, stets im Konflikt mit allem Akademisch-Herkömmlichen stehenden Bohemien macht und ihn dafür prädestiniert, unbekümmert und kühn in musikalisches und seelisches Neuland vorzustoßen. Eine angepasste, konventionelle Natur hätte wahrscheinlich weder die Kraft noch den Weitblick und die Originalität entwickelt, deren es dazu bedurfte. Einer seiner Biografen, der Komponist Jean Barraqué, charakterisiert diesen geheimnisvollen Zusammenhang hellsichtig: «Ihm war jede Fessel, jede Verpflichtung nicht nur unerträglich, sondern zugleich ein Angriff auf seine geheimsten Lebenskräfte.»
Die Welt der «Lebenskräfte» – sie ist tatsächlich der Schlüssel, der uns die eigentliche Tür zur Musik Debussys öffnet. Schon als Stipendiat in der Villa Medici in Rom schreibt er über seine Komposition Printemps (Frühling): «Der Frühling wird nicht mehr im deskriptiven Sinne, sondern menschlich aufgefasst. Ich möchte das langsame und schmerzvolle Entstehen der Wesen und Dinge in der Natur ausdrücken. Dann ihre aufsteigende Entwicklung bis zu einem abschließenden Freudenausbruch über die Wiedergeburt zu einem irgendwie erneuerten Leben …» 1894 erregt Debussy Aufsehen mit dem Orchesterprélude zum Nachmittag eines Fauns nach dem Gedicht von Stéphane Mallarmé, das die Träume und erotischen Begierden eines Naturwesens ausdrückt: «Ermüdet davon, die furchtsamen Nymphen und scheuen Najaden zu verfolgen, gibt er sich einem Höhepunkt der Lust hin, zu dem der Traum eines endlich erfüllten Wunsches führt: des vollkommenen Besitzes der ganzen Natur.»
Ab jetzt werden die geheimnisvollen und verborgenen Kräfte der Natur die Achse seines Schaffens bilden und eine Stimme bekommen: Die Feen sind exquisite Tänzerinnen, Tote Blätter, Klänge und Düfte erfüllen die Abendluft, Der Wind in der Ebene, Clair de lune, Undine, Syrinx, Nebel, Reflexe auf der Wasseroberfläche. In La Mer hören wir das Spiel der Wellen und werden Zeugen eines Dialogs zwischen Wind und Meer. Und das Nocturne Sirènes ist «das Meer und sein unendlicher Rhythmus; dann erklingt, lacht und vergeht aus den vom Mondlicht versilberten Wellen der geheimnisvolle Gesang der Sirenen.»
Debussys Musik wirkt magisch. Als ich neulich seine Suite bergamasque spielte, flog durchs geöffnete Fenster, angezogen von den geheimnisvollen Klängen, eine Meise in mein Zimmer und setzte sich auf den Flügel …