Jean-Claude Lin

Living and dying

Nr 160 | April 2013

Es ist eine traurige Tatsache unserer fortgeschrittenen industrialisierten Gesellschaft, dass die Geburt eines Kindes wie eine Krankheit behandelt wird. Entbinden soll eine Schwangere im Krankenhaus. Sie darf zwar noch zu Hause entbinden, aber: Was könnte nicht alles schiefgehen! Und außerdem müssen erst eine Hebamme und ein Arzt oder eine Ärztin gefunden werden, die bereit sind, eine Hausgeburt zu begleiten. Das ist bei den geltenden Sätzen, die die Krankenkassen bei Hausgeburten anwenden, allerdings zunehmend schwierig. Eine freie Hebamme hat fast kein auskömmliches Leben mehr, da eine Hausgeburt in keiner Weise von den Krankenkassen so finanziell honoriert wird wie eine Geburt im Krankenhaus. Angst vor den möglichen Komplikationen und die systematische Unterminierung des Hebammenberufes in freier Praxis treiben immer mehr Frauen zur Entbindung im Krankenhaus. Wen wundert es, dass immer weniger Frauen überhaupt ein Kind zur Welt bringen wollen! Eine Krankheit möchte man doch vermeiden.
Ich verdanke es dem Mut meiner Frau und der Bereitschaft ihres Arztes und ihrer Hebamme, für ein kümmerliches Entgelt eine Entbindung außerhalb eines Krankenhauses zu begleiten, dass vier von unseren fünf Kindern zu Hause geboren wurden. Unser erstes Kind wurde im Krankenhaus geboren. Aber so lernten wir die Ruhe, den Frieden und das Glück von vier Entbindungen zu Hause schätzen. Noch Tage nach jeder Geburt erlebte ich, wie die Geburtsstätte von einer ungeahnt heiligen Atmosphäre erfüllt war, wie ich sie sonst nur im Beisein eines Verstorbenen kennengelernt habe – aber ganz durchdrungen von einer erhabenen, freudigen und reinen Dankbarkeit! Geburt und Tod sind irdische Vorgänge, aber in ihnen können wir auch empfinden, wie heilig alles Leben ist, wie wir vom Göttlichen getragen werden.
Dankbar müssen wir solchen Frauen wie Thea Vogel sein, die gegen die Angst vor einer Geburt arbeiten. Und dankbar auch den Gärtnerinnen unter uns, die wie Jane Powers erkannt haben, dass ihr «living garden» eigentlich «living and dying garden» heißen müsste. Denn das ewige Leben ist nur in Geburt und Tod zu finden – dort, wo wir zu Hause sind.

Mögen wir alle den Weg nach Hause finden! Herzlich grüßt aus Stuttgart,


Ihr Jean-Claude Lin