Wer in der Glockenstube der Zeit verweilt, ist gesegnet. Wer darin das Läutern der Glocken aushält und empfindend miterlebt, wird beschenkt – und erhält zudem eine Aufgabe. Über den Kirchturm seines Heimatdorfes Ulsenheim schreibt Wilhelm Hoerner im Rückblick auf sein Leben: «Dieser Turm war für mich geheimnisvoll von unten bis oben. Wenn ich wusste, dass die Eltern mich nicht suchen würden, ging es an die stufenweise Erkundung des dunklen Turminneren.» Als mittags um zwölf Uhr die große Glocke geläutet wurde, setzt sich der kleine Willy wiederholt dem gewaltigen Geschehen aus:
«Das große Rund des Glockenrandes flog im Schwung in etwa einem Meter Entfernung auf mich zu. Die Tonwellen, von dem zentnerschweren Klöppel erzeugt, brachten die gesamte Luft in der Glockenstube derart ins Schwingen, dass nicht nur der Atem, sondern auch die inneren Lebensorgane mitschwingen mussten und dadurch das weh-frohe Gefühl eines selbstbewussten Eingebundensein in größere Zusammenhänge sich ankündigte.»
In der Glockenstube des Kirchturms von Ulsenheim berührt Wilhelm Hoerner das Grundmotiv seines Lebens: die Zeit – wie sie in den Rhythmen der Natur, in den Ereignissen der Geschichte, in der göttlichen Offenbarung in Erscheinung tritt. In diesem Jahr, so Gott will, feiert Wilhelm Hoerner als wacher Zeitgenosse am 22. Juli seinen 100. Geburtstag! Ihm, dem Erforscher der Ordnungsgesetze der Erde und des Menschen in Zeit und Rhythmus, dem Kämpfer für ein wirkliches Verständnis des beweglichen Osterfestes, dem erkennenden und handelnden Priester also, wie auch dem Begründer des alljährlichen Taschenkalenders des Verlags Urachhaus danken wir von Herzen für seine Fürsorge und Anregungen.
Auf seiner Spurensuche einer Schicksalsführung im 20. Jahrhundert, wie er seine Autobiografie genannt hat, bemerkt er, dass «das aufzählende Aneinanderreihen der Ereignisse eines Menschenlebens» keine Biografie ergibt. «Es müssen sowohl die Aufnahme als auch der seelische Umgang mit dem Erlebten deutlich werden. Aber viele Menschen erleben ihre Schicksale nicht tief genug in der Seele, sondern machen sie nur passiv mit. Jedoch nur das bedenkende Miterleben und das Hineinstellen des Erlebten in ein Vorher und Nachher weiten den Blick für den inneren Zusammenhang des ganzen Lebens.»
So wird erkennbar: Der die Zeit ordnet ist ein jeglicher Mensch, der diesen Blick für den inneren Zusammenhang des Lebens übt. Wie er in dieser Ausgabe von a tempo geübt wird, können Sie, liebe Leserin, lieber Leser, auch in unserem Gespräch mit Virginia Wangare Greiner und im «Lob der späten Stunde» von Maria A. Kafitz nachlesen.
Mit hochsommerlichem Gruß, Ihr
Jean-Claude Lin