Wie wir werden, was wir sind

Nr 169 | Januar 2014

In England geboren und aufgewachsen, freute ich mich darüber, eine französische Mutter und einen chinesischen Vater zu haben – auch wenn er nicht mehr bei uns lebte. In den Ferien fuhren mein jüngerer Bruder und ich zu den Großeltern nach Paris und von dort in die Cevennen. Es waren herrliche Wochen und Monate. Und wenn ich hier oder dort gefragt wurde, wo ich denn herkomme, antwortete der kleine Knirps, der ich war, ich sei halb Franzose, halb Chinese und halb Engländer!
Das Freiheitsgefühl, nicht bloß Franzose oder Chinese oder Engländer zu sein, führte wohl ein wenig zum Größenwahnsinn – zumindest wirkte das manchmal so auf Menschen, die keinen solchen Hintergrund hatten. So hielt ich mich auf alle Fälle für einen Europäer, mit etwas mehr on top.
Nun lebe ich inzwischen seit über dreißig Jahren in Deutschland. Für Franzosen oder Engländer bin ich im Denken und Habitus längst Deutscher geworden. Also: noch mehr Europäer!?
Ja – und nein.
Als ich im Hinblick auf unser Gespräch mit dem österreichischen Schriftsteller Robert Menasse sein Buch Der europäische Landbote in die Hand nahm und las, musste ich feststellen, dass viele der Vorurteile gegenüber der Europäischen Union und deren Kommission und Beamten, die er schildert und entlarvt, genauso auch in mir leben. Das empfinde ich als äußerst peinlich. Zum Glück besitzt Robert Menasse so viel Sinn für Kunst und Humor, dass ich ihm für diese Offenbarung meiner eigenen ungeprüften Vorurteile dankbar bin. Sie zeigen mir, dass es ein noch weiterer Weg ist, das zu werden, was ich eigentlich schon bin.

Von einigen solchen Wegen ist in dieser Ausgabe noch die Rede. Sie mögen auch Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, Anregung, Offenbarung und – ja, auch Unterhaltung im neuen Jahr werden!

Von Herzen, Ihr

Jean-Claude Lin