«Ich bin ein Mensch der Grenze. Immer physisch, psychisch, moralisch, künstlerisch mit einem Fuß absturzdisponiert, aber doch immer noch balancierend und geistesgegenwärtig.» – An dieses Wort unter den Aphorismen des fünfundzwanzigjährigen Dichters Christian Morgenstern habe ich bei der Lektüre unserer Reportage über den Circus Mignon der Senioren wie auch bei unserem Gespräch mit Friedrich Kautz denken müssen. Womit halten die Grenzgänger, die Gratwanderer und Seiltänzer des Lebens die Balance?
Der Rapper Prinz Pi, alias Friedrich Kautz, studierter Kommunikationsdesigner und angehender Doktorand der Philosophie, nennt sein neuestes Album Kompass ohne Norden. Und da ertappe ich mich dabei, einen mir neuen Gedanken zu hegen. Denn was ist und wozu könnte man einen Kompass «ohne Norden» gebrauchen? Wie sollte uns ein Kompass bei der Orientierung eine Hilfe sein, wenn es keinen Norden gibt?
Doch einen solchen Kompass kennen wir wohl und nutzen ihn auch – jedes Mal, wenn wir schöpferisch denken. Jedes Mal, wenn wir eine Antwort auf eine Frage erst finden müssen, wenn sie nicht bloß vergessen ist, sondern erstmalig gefunden, hervorgebracht werden muss, ist unser Denken wie ein Kompass ohne Norden: Es ist ein Denken ohne Wahrheit, denn die Wahrheit suchen wir erst, wir haben sie nicht schon. Da rücken Denker und Dichter, Künstler und Philosoph nah zusammen. Sie sind Menschen der Grenze ins Unbekannte mit einem Kompass ohne Norden: und sie halten sich aufrecht in der Bewegung, der ursprünglichen Betätigung – im eigenen Denken und produktiven Schaffen.
Mut zum Gebrauch des eigenen Denkens riefen sich die alten Aufklärer gegenseitig zu. Es ist schön, den alten Ruf mit neuem Timbre in dieser Ausgabe zu hören!
Von Herzen grüßt, Ihr
Jean-Claude Lin