Lieber Leserin, lieber Leser,
Ich habe an dieser Stelle immer wieder aus dem Leben schöpfen können. Diesmal aber muss ich es aus dem Tode. Dass ich es wage, es nicht nur verschleiert auszusprechen, sondern unumwunden, verdanke ich der bemerkenswerten Äußerung unseres Gesprächspartners in dieser Ausgabe, Rolf Bauerdick: er habe nichts gegen lustvollen Konsum, sehr wohl aber dagegen, dass bei all dem hohlen Materialismus dasjenige verkümmert, was man früher einmal «Seelenleben» nannte. Sogar das Wort «seelenvoll» nimmt er in den Mund, das ich sonst nur noch aus dem Werk Rudolf Steiners kenne.
Seit dem Valentinstag lag meine Frau nach einem mehrmonatigen Krankenhausaufenthalt wieder zu Hause. Weitere Therapien gegen ihren Krebs wünschte sie sich nicht mehr. Fünf Jahre bereits kämpfte sie gegen die sich vermehrt ausbreitende Krankheit. Nun wartete sie, immer wieder schweren Schmerzen ausgesetzt, auf den Tod. Und er ließ auf sich warten: es kamen Ostern, Himmelfahrt, Pfingsten – und schließlich am 19. Juni, am Fronleichnamstag, konnte sie, die am 19. August 1956 geboren war, sterben.
In dieser Zeit hatten wir miteinander eine Schilderung Rudolf Steiners über Geburt und Tod intensiv aufgenommen:
«Denn sehen Sie, kein Mensch kann sich mit gewöhnlichen physischen Erkenntnismitteln an seine eigene Geburt erinnern. … Die Geburt liegt vor der Zeit, an die man sich erinnert. … Der Tod aber – und dadurch unterscheidet er sich von der Geburt in seiner Bedeutung nach dem Tode – steht immer als das größte, bedeutendste, lebendigste, vollkommenste Ereignis vor dem geistigen Auge in der Zeit zwischen dem Tod und einer neuen Geburt. Denn der Tod ist eben das, wovon wir unser Ich-Bewusstsein nach dem Tode haben. Und ebenso wie es uns hier in unserem physischen Leben unmöglich ist, uns an unsere Geburt zu erinnern, ebenso notwendig und selbstverständlich ist es in der ganzen Zeit, die wir in der geistigen Welt verbringen, in dem Leben zwischen Tod und neuer Geburt, dass immer der Moment, wo der Geist sich losringt von dem Leibe, vor unserem geistig-seelischen Blick steht. Dann aus diesem Tode heraus fließt uns eben im Zusammenhang mit dem, was wir hier erlebt haben, die Kraft, die wir brauchen, um uns als Ich zu fühlen. Man möchte sagen: könnten wir nicht sterben, so könnten wir ein geistiges Ich überhaupt nicht erleben.»*
In den Bildern ihres Lebens, die sich machtvoll in den ersten Tagen nach dem Tode entfalten, wird meine Susanne erlebt haben, wie beseelend sie für mich und unsere Kinder und in allen ihren Unternehmungen unter Menschen und für die Anthroposophie und Eurythmie gewirkt hat. Für sie wie auch für mich erhalten die Worte Rudolf Steiners aus seinem «Friedenstanz» für die Eurythmie eine erneut gelebte Vertiefung:
Das Leben, es wird heller um mich,
Das Leben, es wird schwerer für mich,
Das Leben, es wird reicher in mir.
In diesem Sinne «seelenvoll» grüße ich Sie, liebe Leserin, lieber Leser, von Herzen,
Ihr Jean-Claude Lin