Liebe Leserinnen, liebe Leser,
«Schöpferisch ist der Mensch nur, wenn er sich rätselhaft bleibt», hat Rüdiger Safranski in seinem Buch über Nietzsche geschrieben. Und in unserem Gespräch kennzeichnet er sein Bemühen um die Denk-, Werk- und Lebensgestalt einzelner schöpferischer Menschen des deutschen Geisteslebens als ein «Zurückfinden zum Einzelnen».
Ich muss hierbei an die Begegnungen mit einem serbischen Philosophen im Sommer 1984 denken. Wir begegneten und trafen uns einige Male in der Württembergischen Landesbibliothek in Stuttgart. Er kam aus Niš, war ein sehr bescheidener, freundlicher und feinsinniger Mensch, und zum Abschied und als Dank für unsere Unterredungen schenkte er mir ein Exemplar von Friedrich Nietzsches Morgenröte mit der Widmung: «Verehrtem Jean-Claude Lin – Milivoje Pejcic / Stuttgart, 11.08.1984». In der Vorrede, die Nietzsche dem Buch im Herbst des Jahres 1886 beifügte, heißt es, dass die Vorrede spät kommt, aber: «Ein solches Buch … hat keine Eile; überdies sind wir beide Freunde des lento, ich ebenso wohl als mein Buch. Man ist nicht umsonst Philologe gewesen, man ist es vielleicht noch, das will sagen, ein Lehrer des langsamen Lesens». Von der Tätigkeit des Philologen heißt es bei Nietzsche in seiner Vorrede weiter: «Philologie nämlich ist jene ehrwürdige Kunst, welche von ihrem Verehrer vor allem eins heischt, beiseite gehen, sich Zeit lassen, still werden, langsam werden –, als eine Goldschmiedekunst und -kennerschaft des Wortes, die lauter feine vorsichtige Arbeit abzutun hat und nichts erreicht, wenn sie es nicht lento erreicht.»
Diese feine vorsichtige und auch bezaubernde Arbeit der Philologie – «sie selbst wird nicht so leicht irgend womit fertig, sie lehrt gut lesen, das heißt langsam, tief, rück- und vorsichtig, mit Hintergedanken, mit offen gelassenen Türen, mit zarten Fingern und Augen lesen …»
Dreißig Jahre nach unserer Begegnung wollte ich wissen, ob es eine Spur von Milivoje Pejcic im Internet gibt. Unter sr.m.wikipedia.org fand ich die feinen Gesichtszüge – die Haare etwas ergraut – und den mir gut in Erinnerung gebliebenen mild-freundlichen Blick wieder: Datum rodenja: 1948 – Datum smrti: 2009. War ich zu langsam in meiner durch Rüdiger Safranskis Anregung wiederaufgenommenen Lektüre von Nietzsches Morgenröte?
Ich kann zwar kein Serbo-Kroatisch, aber «smrti» kann hier nur «Tod» heißen, und 2009 das Todesjahr von Milivoje Pejcic. Ist jetzt die Tür zugefallen, frage ich mich? Es ist aber doch die Kunst des Philologen, des langsamen Lesers, die Türen offen zu lassen – und wenn sie zufallen, doch wieder zu öffnen.
Ich wünsche Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, einen Herbst im milden Schein dieser Goldschmiedekunst des langsamen Lesens.
Von Herzen, Ihr
Jean-Claude Lin