Die Gegenwart macht es uns zuweilen schwer, sie voll zu bejahen, sie mit ganzer Seele zu umarmen. Es sind nicht nur die Kriege und Katastrophen und Terrorakte, die uns so zusetzen, dass wir vor der Gegenwart fliehen möchten – auch unsere persönlichen Angelegenheiten, die Schicksalsschläge, die uns treffen, oder unsere eigene Unvernunft und Leidenschaft, die uns in Situationen führen, die, einmal Gegenwart geworden, uns fast in die Verzweiflung führen. Einer, der das Elend des Menschen gut kannte, ist der junge französische Mathematiker, experimentelle Naturforscher und spätere leidenschaftliche Vertreter der «Vernunftgründe des Herzens», Blaise Pascal, der am 19.06.1623 geboren wurde und am 19.08.1662 unter jahrelang erduldeten Schmerzen starb.
«Wir halten uns nie an die Gegenwart», schrieb er in seinen posthum veröffentlichten, Fragment gebliebenen Gedanken über die Religion und einige andere Themen, die eigentlich eine Verteidigung des Christentums werden sollten. Und er fuhr fort: «Wir rufen uns die Vergangenheit zurück; wir greifen der Zukunft vor, als käme sie zu langsam und als wollten wir ihr Eintreten beschleunigen, oder wir rufen uns die Vergangenheit zurück, als wollten wir sie festhalten, da sie zu schnell vorübereilte, wir sind so unklug, dass wir in Zeiten umherirren, die nicht die unsrigen sind, und nicht an die einzige denken, die uns gehört, und wir sind so eitel, dass wir an jene denken, die nichts sind, und uns unüberlegt der einzigen entziehen, die weiterbesteht. Das kommt daher, weil die Gegenwart uns meistens wehtut.» Und gegen Ende dieses 47. bzw. 172. Fragments schreibt er kurz und bitter: «Wir denken fast überhaupt nicht an die Gegenwart, und wenn wir an sie denken, so nur, um aus ihr die Einsicht zu gewinnen, mit der wir über die Zukunft verfügen wollen. Die Gegenwart ist niemals unser Ziel. … Deshalb leben wir nie, sondern hoffen auf das Leben, und da wir uns ständig bereithalten, glücklich zu werden, ist es unausbleiblich, dass wir es niemals sind.»*
Pascals Gedanken sind aber Spuren auf einem Weg – zu sich, zu Gott und zu den Menschen –, nicht unbedingt letzte, unwandelbare Wahrheiten. «Das Herz hat seine Vernunftgründe, welche die Vernunft nicht kennt; man erfährt es an tausend Dingen», hat er auch im Fragment 423/277 festgehalten. Wovor die Vernunft zuweilen fliehen möchte in der Gegenwart, das kann das Herz vielleicht doch umarmen. «Sara, wir verstehen uns mit dem Herzen», sagte Prinz Charles zu Sara Dootz aus Deutsch-Weisskirch, wie Rolf Bauerdick in unserer Reportage berichtet. Die Gegenwart verstehen wir vielleicht nur mit dem Herzen.
So grüßt Sie auch, liebe Leserin, lieber Leser,
von Herzen, Ihr
Jean-Claude Lin