So oder so

Nr 184 | April 2015

«Was ist so ein Ich eigentlich», fragt sich Ruth, die Ich-Erzählerin in Monika Marons zuletzt er­schienenem bemerkenswerten Roman Zwischenspiel. «Was ist so ein Ich eigentlich, dachte ich, wenn dem alten Ich das junge so fremd ist, als gehörte es gar nicht zu ihm. Wo bleiben die ganzen Ichs überhaupt, die man in seinem Leben war und denen man das letzte immerhin verdankt?»
Als ihr diese Fragen in den Sinn kommen, bereitet sich die sechzigjährige Ruth vor auf den Gang zum Begräbnis ihrer älteren Freundin, Olga, der Mutter desjenigen Mannes, den Ruth kurz vor der geplanten Hochzeit im Stich ließ, weil sie sich überfordert fühlte, neben der gemeinsamen kleinen Tochter noch das behinderte Kind aufzunehmen, das ihr Bräutigam aus einer früheren Verbindung mit in die Ehe bringen würde. Mit Olga hält sie jahrzehntelang die Verbindung aufrecht, doch mit Bernhard, ihrem Bräutigam und Vater ihrer Tochter, bricht sie. Da trägt sie Schuld. Aber wie hängt sie heute mit derjenigen zusammen, die sie damals bei ihrer schwerwiegenden Entscheidung war? Eher fühlt sie sich mit dem Ich ihrer Kindheit verbunden als mit dem Ich ihrer frühen Erwachsenenjahre.
Wie hängen diese vielen verschiedenen Ichs eines Lebens zusammen, welche Identität ist in ihnen auszumachen? Solche Gedanken gehen Ruth durch die Seele, als sie sich bereit macht, zum Begräbnis zu fahren. Und dann ist Olga da. Olga selbst steht bei ihr in der Wohnung, spricht mit ihr, der Agnostikerin und Ungläubigen in allem, was ein Leben nach dem Tod betrifft. Und sie sprechen miteinander, auch über die abgebrochene Hochzeit und über Ruths Untat.
«Ich habe mich furchtbar gefühlt und geschämt», gesteht Ruth.
«Du hast dich schuldig gefühlt, aber dann bist du trotzdem gegangen. Ich habe dich für deinen Mut bewundert», erwidert ihr Olga.
«Olga sah mich lange an, als suche sie in meinem Gesicht nach den Spuren, die meine Entscheidung hinterlassen hatte, sagte dann: Weißt du, Schuld bleibt immer, so oder so.»
Und ohne Schuld ist vielleicht gar kein Ich möglich. Es gibt Momente im Leben, in denen wir so oder so entscheiden können und müssen, Entscheidungen treffen, die für das Werden unseres Ichs wesensbestimmend sind, die uns aber auch schuldig werden lassen – so oder so.

Von Herzen grüßt Sie in diesem Frühling

Ihr Jean-Claude Lin