Mitten im Krieg, am 4. Juni 1941, schrieb die zwanzigjährige Erika Wagner einen Brief an ihren an der Front eingesetzten sechsundzwanzigjährigen Freund Theodor Beltle. Die später als Dichterin und Rätselschmiedin bei manchen hoch geschätzte Stuttgarterin zitiert darin einen Satz von Ludwig Thoma, den sie gerade gelesen hat und der sie ziemlich erschüttert:
«Jede Trennung gibt einen Riss, den die Zeit erweitert und nie mehr zusammenflickt.»
Ihr entschiedener, lapidarer Kommentar dazu ist: «Ich glaube das nicht!»
Wie kann ein Mensch diesen «Riss» einer räumlichen Trennung, den die Zeit noch «erweitert», überwinden? Bei Menschen, die sich lieben, wird man leicht, vielleicht allzu leicht, antworten: durch die Treue – jene Treue, die gerade als das «Gütesiegel der Liebe» angesehen werden kann. Aber der Mensch ist nicht von Natur aus treu. Vielmehr ist diese seelische und moralische Eigenschaft eines Menschen etwas, was erst angeeignet werden muss, eben durch das Erfahren räumlicher und zeitlicher Trennung. Das Leben in Raum und Zeit ist dem Menschen als physisch-sinnliches Wesen zugleich Anlass, als seelisch-geistiges Wesen über das Vergängliche und Trennende hinauszuwachsen.
Für die Zeit vom 21. Mai bis 20. Juni, die im Tierkreiszeichen der Zwillinge steht, kann der von Rudolf Steiner einmal notierten, aber nicht weiter erörterten Monatstugend erhöhte Aufmerksamkeit geschenkt werden: «Ausdauer wird zu Treue.»
Ausdauer ist eine Eigenschaft, die wir in der Überwindung von Raum und Zeit brauchen – wie nicht nur an jedem Ausdauersport zu erkennen ist. Wie Raum und Zeit, ist auch die Ausdauer eine Kategorie des physischen, des irdischen Lebens. Die brauchen wir aber, um die seelische und moralische Eigenschaft der Treue zu entwickeln. Ein Sinn des Lebens ist aber gerade der: dass wir die Risse, die uns die unvermeidlichen Trennungen in Raum und Zeit bescheren, durch Ausdauer überwinden und Treue entwickeln. Darin liegt die Güte unserer Liebe.
Von Herzen grüßt Sie, Ihr
Jean-Claude Lin