Am Vorabend zu Michaeli 1942, also am 28. September, notiert Etty Hillesum eine denkwürdige Begebenheit. Seit August 1942 lebt sie im niederländischen Durchgangslager Westerbork mit Hunderten weiterer Mitbürger jüdischer Herkunft. Und seit dem 9. März 1941 schreibt die Siebenundzwanzigjährige Tagebuch. «Neun eng beschriebene Hefte in kleiner, schwer lesbarer Handschrift» hinterließ die studierte Juristin und an Psychologie und russischer Literatur Interessierte, wie der spätere Herausgeber der Tagebücher J. G. Gaarlandt mitteilt.
Am Vorabend zu Michaeli notiert Etty Hillesum also, dass «der flirtende Internist mit den melancholischen Augen» ihr sagte: «Sie leben geistig zu intensiv, das ist schlecht für Ihre Gesundheit, Ihre Konstitution kann das nicht verkraften.» Der Hinweis, ja der Vorwurf vielleicht, geht ihr lange nach. Schließlich befindet sie: «Er hat nicht recht. Es stimmt, ich lebe intensiv, wenn es mir auch manchmal wie eine dämonische und ekstatische Intensität vorkommt, aber ich erneuere mich von Tag zu Tag am Urquell, am Leben selbst, und ruhe mich von Zeit zu Zeit in einem Gebet aus.» Wie in eine Klosterzelle, mitten im Krieg und unter nationalsozialistischer Aufsicht, kann sie sich in ein Gebet zurückziehen und mit erneuerter Kraft und wiedergewonnener Ruhe weiter leben. Dank dieser Begebenheit zieht Etty Hillesum ein bemerkenswertes Fazit: «Es ist, glaube ich, gerade die Angst der Menschen, sich zu sehr zu verausgaben, die ihnen die besten Kräfte raubt. Wenn man nach einem langen und mühseligen Prozess, der täglich weiterschreitet, zu dem Urquell in sich vorgedrungen ist, den ich einfach Gott nennen möchte, und wenn man dafür sorgt, dass der Weg zu Gott frei bleibt und nicht verbarrikadiert wird – und das geschieht durch ‹Arbeit an sich selbst› – , dann erneuert man sich immer wieder an der Quelle und braucht nicht zu befürchten, dass man seine Kräfte zu sehr verausgabt.»*
Am 7. September 1943 wurde Etty Hillesum mit ihrer ganzen Familie nach Auschwitz deportiert – ihr Leben dort grausam beendet. Immer wieder aber haben geistig suchende und strebende Menschen empfunden, dass der Erzengel Michael der weisende unter den Engeln Gottes ist zu dem Urquell menschlicher Existenz und Schaffenskraft. Es ist ein glückliches Schicksal, dass wir an der Einsicht von Etty Hillesum teilhaben können.
Von Herzen grüßt im Michaeli-Monat, Ihr
Jean-Claude Lin