In unserem in mehrfacher Hinsicht bemerkenswerten Gespräch mit der Schauspielerin Nina Petri können wir nachlesen, wie sie sich jahrelang darüber gewundert hat, was eigentlich in ihr alles gesehen wurde. «Für mich hatte das oftmals gar nichts mit mir zu tun», sagt sie. «Logisch nicht! Ich bin ja auch ich, und die Schauspielerin Nina Petri ist ja eine Figur.»
In unserem Essay zum Thema «Was heißt hier sein?» schreibt der angehende Literaturwissenschaftler und frisch gekürte Romanautor Juan S. Guse: «Realität ist nicht etwas, in das man sich einfach reinsetzt – und fertig.»
Nimmt man beide Aussagen wahr, kann man sich geneigt fühlen zu fragen: Was ist die Realität des Ich? Oder auf gut Deutsch: Was ist die Wirklichkeit des Ich? Aber – wie unterschiedlich können diese zwei Fragen ausgelegt werden! Denn «Realität» ist nach dem lateinischen Wort realis gebildet und hängt mit res, Ding oder Sache, zusammen, während «Wirklichkeit» nicht von Dingen oder Sachen herrührt, sondern von Wirkungen und Wirkenden.
Einen ganzen Abend lang kann man sich in geselliger Runde aufhalten und lebhaft mit seinen gegenübersitzenden Gästen im Gespräch sein, mit dem Menschen neben einem aber fast kein Wort wechseln. Und doch entfaltet sich im Nachhinein gerade zu diesem einen Menschen ein ganzer Kosmos an Verbindungen und Beziehungen. Die Dinge für sich, und dazu zählen in diesem Zusammenhang auch Personen, mögen irgendwie real sein, wirklich werden sie erst, wenn sie in menschliche Wahrnehmung und Tätigkeit, in denken, reden und handeln aufgenommen werden. Ein Haiku mag zunächst nur Dinge, Sachverhalte aufzählen. Aber in diesem Akt findet bereits die Überführung in die Wirklichkeit statt:
Noch ohne Worte
ohne Geste der Nähe
dein Glas und mein Glas
Und diese Wirklichkeit des Ich ist immer auch etwas Künstlerisches.
Auf dass wir uns also von Ich zu Ich wahrnehmen mögen,
grüßt von Herzen in diesem Oktober, Ihr
Jean-Claude Lin