Liebe Leserin, lieber Leser!
Soll ich auf meine geplante Reise nach Paris im neuen Jahr verzichten? Manche werden sich diese Frage nach dem Blutbad vom 13. November 2015 erneut stellen oder haben bereits für sich beantwortet: Sie werden nicht nach Paris reisen. Das Risiko, dass weitere terroristische Anschläge in dieser so schönen wie symbolträchtigen Stadt verübt werden, sei zu hoch. Und es sei ein Gebot der Vernunft, sich nicht unnötig auf ein hohes Risiko einzulassen. Alle Toten unter den Opfern vom 13. November können hier nicht genannt werden. Aber an die Menschen, die am Morgen des 7. Januars 2015 von zwei islamistisch verblendeten jungen Brüdern in den Redaktionsräumen der satirischen Wochenzeitung Charlie Hebdo ebenfalls in Paris ermordet wurden, kann und soll hier sehr wohl gedacht werden:
Ermordet wurden der Wartungstechniker Frédéric Boisseau, der Herausgeber und Zeichner Stéphane Charbonnier, die Zeichner Jean Cabut, Bernard Verlhac, Philippe Honoré und Georges Wolinski, der Ökonom und Mitinhaber der Zeitung Bernard Maris, der Lektor Mustapha Ourrad, der Kulturveranstalter Michel Renaud, die Psychiaterin Elsa Cayat und der Sicherheitsbeamte Franck Brinsolaro. Auf der Flucht erschossen die beiden Brüder noch kaltblütig den am Boden liegenden Polizisten Ahmed Merabet. Sie seien aus der Anonymität, in der solche feigen Gräueltaten von Terroristen meist verhüllt sind, hervorgehoben.
Auch wenn ich selbst kein Leser einer fast ausschließlich satirisch ausgerichteten Zeitung bin, halte ich es für fundamental, dass es in unserer Gesellschaft solche Zeitschriften geben kann. In der Nacht vom 13. November wurde viel willkürlicher getötet. Umso größer ist nun die Angst, die sich verbreitet, dass weitere terroristische Anschläge dieser Art geschehen werden. Es ist nach Lage der Verhältnisse nicht abzusehen, dass sie nicht geschehen werden. Dennoch kann es nicht vernünftig sein, aus Angst vor einem weiteren Anschlag nicht nach Paris zu reisen. Ein solcher Anschlag könnte mich in jeder Metropole dieser Welt treffen.
Es liegt oft eine tiefe Tragik in den Lebensläufen der meist jungen männlichen Terroristen, dass sie nicht die Fähigkeit in sich ausbilden konnten, sich aus einer empfundenen Demütigung zu erheben und die Probleme unserer Welt frei denkend zu durchdringen. Sie flüchten in die Scheingewissheit der Gewalt. Rache und Verzweiflung sind oft maßgebliche Triebfedern ihrer Handlungen. Vernünftig wäre es, sich weder der Rache noch der Verzweiflung oder der Angst anzuvertrauen, sondern dem eigenen besonnenen Denken. Das können wir täglich versuchen, jede und jeder. Und das – wie wir im Gespräch mit Ilija Trojanow nachlesen können – ist Leben und ist Glück.
Auf dass wir vernünftig sind in diesem neuen Jahr,
grüßt von Herzen, Ihr
Jean-Claude Lin