Liebe Leserin, lieber Leser
«Ich liebe nichts auf Erden so sehr wie Euch; ist das nicht seltsam?» So bekennt es der wortreiche, eitel erscheinende und sich unverbindlich gebende Benedikt der schlagfertigen, Witz und unnahbaren Charme versprühenden Beatrice in Shakespeares Komödie «Viel Getu um Nichts», wie der am 6. Mai 1921 in Wien geborene Dichter Erich Fried die von Beginn an überaus populäre Komödie Much Ado about Nothing übersetzt.
Welche Gründe gibt es für die tiefe Liebe zweier Menschen, die nicht bloß sexueller Natur ist? Beatrice ist wohl einmal, bevor das Stück beginnt, von Benedikt schwer enttäuscht worden. Nun führen sie einen Krieg der Worte und des Witzes, suchen des anderen nahe Gesellschaft, ohne ganz hingegeben sein zu wollen. Shakespeares Komödie, die auch dadurch ihre Substanz und Tiefe erhält, dass sie ebenso eine Tragödie hätte werden können, entfaltet ihren besonderen Reiz darin, dass diese Liebe zwischen Benedikt und Beatrice nicht bloß gegeben ist, sondern erst aufgedeckt, zu- und eingestanden werden muss.
Hierüber macht Nicholas Hytner eine sehr weittragende Bemerkung. Der 1956 geborene und 2003 zum Leiter des Londoner «National Theatre» berufene Regisseur, der 2007 das Stück mit Zoë Wanamaker und Simon Russell Beale als Beatrice und Benedikt im mittleren Alter inszenierte, fragte sich, woher Beatrice so sicher sein konnte, dass ihre Cousine Hero der beschuldigten Untreue nicht fähig war, und antwortet: «Sie kennt Hero. Wenn Benedikt sich mit Beatrice verbindet, geschieht dies nicht als Befriedung des Kampfes zwischen den Geschlechtern, sondern als Vereinigung zweier Menschen, die dadurch, dass sie sich gegenseitig wirklich tief kennen, die Fähigkeit sich errungen haben, auch die anderen Menschen um sich gut zu kennen.»
Die Liebe zu einem anderen Menschen ist die Frucht, aber auch gleichermaßen die Einladung zu einer immerwährenden Vertiefung der Selbsterkenntnis.
Von Herzen grüßt Sie in diesem Wonnemonat Mai,
Ihr
Jean-Claude Lin